Monday, January 29, 2024
Analyse von Ulrich Reitz - Bei Miosga offenbart Selenskyj Scholz-Dilemma und zerreißt zentrales Wagenknecht-Argument
FOCUS online
Analyse von Ulrich Reitz - Bei Miosga offenbart Selenskyj Scholz-Dilemma und zerreißt zentrales Wagenknecht-Argument
Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz •
2 Std.
Nach einem Interview mit Wolodymyr Selenskyj wird deutlich, dass Olaf Scholz in ein Dilemma geraten ist. Soll er Selenskyjs Sicht folgen oder nicht? Die Alternative zeigt Sahra Wagenknecht auf.
An einem – bedeutsamen – Punkt sind sich die größten geostrategischen Gegner dann doch einig: Der große Krieg Russlands gegen die Ukraine hätte verhindert werden können – durch den Westen. Damit hört die Einigkeit zwischen Sahra Wagenknecht und Wolodymyr Selenskyj aber auch schon auf.
Wir schauen hier auf Wagenknecht, weil sie die klarste und streitbarste Alternative zur Sicht Selenskyjs wie der Bundesregierung auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine formuliert. Und weil sich entlang von Wagenknechts, Selenskyjs und auch Scholz‘ Argumentation deutlich machen lässt, entlang welcher großen Linien der Krieg debattiert wird.
Wagenknecht sagt, der Westen hätten den Ukraine-Krieg verhindern können, indem er Wladimir Putin entgegengekommen wäre. Selenskyj sagt, der Westen hätte den Ukraine-Krieg verhindern können, wenn der Putin entgegengetreten wäre – und zwar nicht erst heute, sondern schon 2014, bei der Eroberung der Ostukraine und der Krim.
Selenskyj vs. Wagenknecht: Wer ist Putin? Und wie sollte er „gelesen“ werden?
Damals hätte Deutschland Putin-Russland „an den Verhandlungstisch zwingen müssen“. Das wäre die Rolle Deutschlands gewesen, eine Rolle, die alle Menschen verdient hätten, „die damals noch am Leben waren“. Es ist der massivste Vorwurf an die Adresse der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel – und des demokratischen US-Präsidenten Barack Obama, eines Friedensnobelpreisträgers, die „so gut wie nichts“ gemacht hätten, „um einen großen Angriffskrieg abzuwenden.
Es geht also bei den beiden Sichtweisen um diese Frage: Wer ist Putin? Und wie sollte er „gelesen“ werden?
Wagenknecht sagt, Putin habe Interessen. Interesse Nummer Eins: Verhindern, dass die Nato immer weiter an die russische Grenze heranrückt – mit Raketen, Truppen und Militärbasen. Wagenknecht interpretiert Putin als defensiven Rationalisten, die Amerikaner als die eigentlichen Antipoden von ihm – und offensiv. Nach Wagenknechts Lesart befindet sich Putins Russland seit Jahren in einem Abwehrkampf. Folgerichtig sieht sie den Ukraine-Krieg als „Stellvertreterkrieg“ zwischen Russen und Amerikanern. In ihrer Sicht wird Putin zu einem Opfer, das sich gegen eine amerikanische Übermacht wehrt.
Selenskyj sieht es genau umgekehrt. Putin folgt demnach einer imperialistischen Ideologie, er will die untergegangene Sowjetunion restaurieren und bedroht darum die – noch – vom Westen geprägte internationale Ordnung, wonach das (Völker-)recht gilt und nicht das Recht des Stärkeren. Nach der Demütigung der Russen durch den Untergang ihres Imperiums, diese große Niederlage gegen den Westen, geht er nun in die Offensive, um die alte Ordnung – die Welt aufgeteilt in Einflusssphären statt in souveräne Staaten – wiederherzustellen. Es geht also um weit mehr als die Ukraine, sein von den Russen überfallenes Land – das Opfer.
Selenskyj spricht aus leidvoller eigener Erfahrung - womit er Wagenknechts Sicht als naiv entlarvt.
Beide warnen vor Drittem Weltkrieg, die Aggressoren sind aber verschiedene
Wagenknecht sagt weiter, die Osterweiterung der Nato habe den Ukraine-Krieg verursacht, denn: Putin wolle verhindern, dass die Ukraine „zum Außenposten der Nato“ werde. Der Westen habe einen angeblich absehbaren Verhandlungsfrieden im Frühjahr 2022 verhindert. Damit nicht genug: Heute teilten Amerikaner und Briten die Ziele Selenskyjs, alle von den Russen eroberten Gebiete zurückzuerobern.
Der Westen stachele die Ukraine an und verlängere so den Krieg. Die Bundesregierung von Olaf Scholz stelle „unlimitierte Waffenchecks“ für die Ukraine aus. Und wenn dann eines Tages die Frage im Raum stehe, gucke man der Ukraine beim Untergehen zu oder schicke man doch noch Nato-Truppen dorthin, stehe man vor einem Dritten Weltkrieg.
Auch Selenskyj warnt vor einem Dritten Weltkrieg. Diese Gefahr leitet er aber ab aus Putins Persönlichkeit und dessen imperialistischer Restaurationsideologie. Werde Putin nicht in der Ukraine gestoppt, werde er Nato-Länder angreifen, das Baltikum, Polen, Finnland – eventuell auch Deutschland. Denn grundsätzlich sei es dem Russenführer egal, „ob eine, zwei oder drei Millionen Russen sterben“. Es sei ganz einfach: „Entweder du glaubst, dass die Ukraine recht hat und man die Russen in die Schranken weisen soll, oder eben nicht.“
„Scholz hat verstanden, dass Putin nicht nur ein Name ist, sondern eine Bedrohung“
In dem Interview mit Caren Miosga erzählte Selenskyj, wie sich sein persönliches Verhältnis zum deutschen Bundeskanzler gewandelt hat. Irgendwann fällt er dabei ins vertrauliche „Olaf“, als ob er über seinen persönlichen Freund spreche (was er gern täte). Ausgangspunkt sei ein Treffen zwischen beiden gewesen. Die beiden begegneten sich zum ersten Mal im Mai 2023, davor hatte es große diplomatische Irritationen gegeben.
Der Kanzler habe danach „einige Dinge besser verstanden“, urteilt Selenskyj. Das Wichtigste: „Er hat verstanden, dass Putin nicht nur ein Name ist, sondern eine Bedrohung.“ Selenskyj weiter: „Ich denke, er hat an die Ukraine gedacht, aber auch an sein Volk.“ Denn: „Er spürt, dass Russland näher an Deutschland heranrückt, wenn wir nicht durchhalten.“ Und schließlich, inzwischen ist Selenskyj im Freundschaftsmodus gelandet: „Olaf hat gespürt, dass er nicht nur deutscher Bundeskanzler ist, sondern einer der Leader in Europa.“
Dieser Punkt ist wichtig: In der Tat hat Scholz begonnen, die anderen Europäer auch öffentlich unter Druck zu setzen. Wobei Scholz sichtlich vermeidet, in einer führenden Rolle in Europa wahrgenommen zu werden (was SPD-Chef Lars Klingbeil kritisiert).
Nach dem Willen von Scholz soll die EU-Kommission eine Liste über die finanziellen, wie militärischen Beiträge machen, die jedes einzelne Land an die Ukraine leistet. Dabei wird herauskommen, dass – man kann es heute schon nachvollziehen anhand des Ukraine-Support-Trackers des Kieler Instituts für Weltwirtschaft – das Gefälle in Europa gewaltig ist.
Scholz steckt im Dilemma, Wagenknecht hat es da leichter
Scholz nimmt in Kauf, dass auf dem nächsten Sondergipfel der Europäer Anfang Februar zentrale Länder wie Frankreich und Italien und Spanien geradezu am Pranger stehen. Die Aussicht, dass Deutschland nach einem Rückzug der Amerikaner der größte Geld- und Waffengeber der Ukraine sein könnte, nannte Scholz bedrückend.
Selenskyj stimmt ein in diese Melodie und entwickelt sie konsequent weiter: „Wäre Europa geeint, könnte es wahrscheinlich die Ukraine ausreichend unterstützen“ – selbst nach einem Ausfall der USA nach einem möglichen Wahlsieg Donald Trumps. Es ist ein Szenario, an das Selenskyj eigentlich nicht glauben mag – weil er nicht denkt, dass es möglich ist, dass in einer Demokratie ein einziger Mann (der US-Präsident) komplett die Geschicke seines Landes lenkt.
Sollte genau dies allerdings der Fall sein, „werde die Allianz zwischen den USA und Europa verloren gehen“. Genau das würde Putin dann „zu 100 Prozent ausnutzen“.
Der vorsichtige, tastende Kurs von Scholz – man sieht es gerade wieder an der Nicht-Entscheidung über die Taurus-Mittelstreckenraketen – erklärt sich aus einem Dilemma des Bundeskanzlers:
Liefern die Deutschen zu viel, eskalieren die Russen, um ihre Niederlage zu verhindern. Deutschland könnte Kriegspartei werden.
Liefern die Deutschen zu wenig, verlieren die Ukrainer. Dann eskalieren die Russen. Deutschland könnte Kriegspartei werden.
In so einer Lage kann man viel falsch und wenig richtig machen. Wagenknecht hat es da leichter: Sie muss nicht regieren.