Tuesday, January 30, 2024
Britische Zeitung rechnet ab: Wer auf Deutschland blickt, sieht einen „Unfall in Zeitlupe“
Merkur
Britische Zeitung rechnet ab: Wer auf Deutschland blickt, sieht einen „Unfall in Zeitlupe“
Geschichte von Fabian Hartmann • 22 Std.
Deutsche Wirtschaftslage
Konjunkturrückgang, Bauernproteste und die Situation der Ampel-Koalition stellen Deutschland vor große wirtschaftliche Herausforderungen.
München – Die britische Tageszeitung Financial Times übt scharfe Kritik an der deutschen Wirtschaft. In einem kürzlich veröffentlichten Leitartikel (25.01.) bezeichnet sie Deutschlands Wirtschaftslage als einen „Unfall in Zeitlupe, anstelle eines beschleunigenden Schwerlasters“. Damit knüpft die britische Zeitung an eine Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, die er beim letztjährigen Weltwirtschaftsgipfel in Davos getroffen hatte. Dort sprach Scholz von einer „neuen deutschen Geschwindigkeit“, die den Maßstab für Wirtschaftsreformen neu setzen werde.
Scholz’ Versprechen blieb jedoch aus, attestiert die Financial Times. Unter anderem ein Blick auf die 2023 um 0,3 Prozent geschrumpfte deutsche Konjunktur mache das sichtbar. Damit sei sie 2023 die „global gesehen am schlechtesten abschneidende große Volkswirtschaft“ gewesen.
Der Konjunkturrückgang, der sich nach Ansicht vieler Analysten in diesem Jahr fortsetzen wird, ist Finanzminister Christian Lindner (FDP) zufolge ein „Weckruf“. Beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos (15.-19.01.) versuchte Lindner bestehende Befürchtungen zu entkräften, wonach Deutschland wieder einmal „zum kranken Mann Europas“ werde. Ihm zufolge sei Deutschland eher ein „müder Mann“, der eine „starke Tasse Kaffee“ braucht – womit der Finanzminister auf Strukturreformen anspielt.
Von der wachsenden Unzufriedenheit mit der Regierungskoalition profitieren andere
Begleitet wurde Einbruch der deutschen Konjunktur der Financial Times zufolge von politischen Rückschlägen, bundesweiten Streiks und einem starken Rückgang der Beliebtheit der Ampel-Koalition. Und dies sind auch die drei groben Teilbereiche, an denen die britische Zeitung ihren kritischen Rundumschlag gegenüber Deutschlands Wirtschaftslage festmacht.
So wachse die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Ampel-Koalition konstant an. Die drei Regierungsparteien mussten aber nicht nur einen enormen Rückgang ihres gemeinsamen Stimmenanteils verkraften – lag dieser Ende 2021 noch bei über 50 Prozent, sank er bis heute um fast ein Drittel.
Noch beunruhigender für Deutschland und Europa ist der Financial Times zufolge allerdings der wachsende Zuspruch für die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD). Nicht nur ihre einwanderungsfeindliche Rhetorik habe die Unterstützung der Bevölkerung in die Partei gestärkt, sondern auch die mittlerweile breite Unzufriedenheit mit der Regierungskoalition.
Vertrauen in die deutsche Wirtschaft leidet – auch wegen gestrichenen Agrardieselsubventionen
Scholz’ gescheitertes Vorhaben, den Klimawandlungsfonds in Höhe von 60 Milliarden Euro aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in Anspruch zu nehmen, schlug genau in diese Kerbe. Die gestrichenen Agrardieselsubventionen für landwirtschaftliche Fahrzeuge lösten Anfang Januar aber nicht nur tagelange Proteste von Landwirten aus. Laut Financial Times verstärkten sie vor allem den Eindruck, die deutsche Wirtschaft funktioniere nicht.
Denn unter den Streichungen der Subventionen leide vor allem das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft. Und das sei auch davor bereits auf einem niedrigen Niveau gewesen, denn die erhöhten Energiekosten hätten viele Haushalte und Unternehmen hart getroffen.
Problematisch sei auch die aktuelle Lage der sonst so prestigeträchtigen deutschen Autoindustrie. Sie habe angesichts des weltweiten Trends zu Elektrofahrzeugen aktuell große Probleme damit, wettbewerbsfähig zu bleiben. Gleichzeitig herrscht ein großer Fachkräftemangel, der Deutschland angesichts des demografischen Wandels künftig vor weitreichende Probleme stellen könnte.
Auch die Schuldenbremse hat Anteil an der aktuellen Wirtschaftslage Deutschlands
Das fehlende Vertrauen in die Politik der Ampel-Koalition wird der Financial Times zufolge durch „Streitereien und politische Pannen“ verstärkt. Sichtbar werde dies an einer „ehrgeizigen, aber schlecht umgesetzten Umweltpolitik“, die Hausbesitzer dazu aufforderte, Gasheizkessel durch Wärmepumpen zu ersetzen. Zudem sei das von Robert Habeck (Grüne) initiierte Heizungsgesetz so umstritten gewesen, dass es nach einem öffentlichen Aufschrei geändert werden musste. Dementgegen würden einige die Wirksamkeit enormer Subventionen für Halbleiterfabriken infrage stellen.
Die Financial Times betont aber auch, die Ampel-Koalition kann nicht für alle aktuellen Missstände verantwortlich gemacht werden. Denn einerseits werde die gesamte Eurozone durch anhaltende Inflation und steigende Zinsen belastet und Bauernproteste breiten sich gerade auch in anderen Ländern Europas aus. Andererseits aber sei „eine starre Begrenzung des Haushaltsdefizits“ mitverantwortlich dafür, dass lange nicht genügend in Bildung und den Schienenverkehr investiert werden konnte. Außerdem habe die Bundesregierung „eine beeindruckende Abkehr von russischem Erdgas“ vollzogen und Reformen zum Abbau von Bürokratie, zur Förderung qualifizierter Einwanderung und zur Beschleunigung der Einführung erneuerbarer Energien durchgesetzt.
Nichtsdestotrotz sieht die Financial Times in der Zusammensetzung der deutschen Regierungskoalition „eine unangenehme Paarung“, der zu verschiedene Interessen zugrunde liegen. Aus Sicht der britischen Zeitung müssten die hohen Energiekosten, die unzureichende Digitalisierung und vernachlässigte Infrastruktur deutlich schneller angegangen werden, um die wirtschaftliche Lage zu verbessern. Einen möglichen Anfang hierzu könnte ihr zufolge darin liegen, die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aufzuweichen. Denn das würde Kredite zur Finanzierung öffentlicher Investitionen ermöglichen.