Monday, January 1, 2024

Wirtschaftswachstum: Glaubt den Prognosen nicht

SZ.de Wirtschaftswachstum: Glaubt den Prognosen nicht Artikel von Kommentar von Jannis Brühl • 8 Std. Wie wird sich die Wirtschaft im neuen Jahr entwickeln? Auf für Profis sind mittelfristige Prognosen oft eher ein Blick in die Glaskugel. Wie das neue Jahr wird? Weiß man nicht, auch wenn viele behaupten, es zu wissen. Und das ist manchmal auch ganz gut. Glaubt den Prognosen nicht In diesem Jahr soll es bergauf gehen. 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum sagt der Sachverständigenrat für 2024 vorher. Auch andere Institutionen und Ökonomen versuchen, anhand vieler Daten die Zukunft zu prognostizieren. Das Problem ist: Die Zukunft macht, was sie will. Die Vorhersagen haben eine Haltbarkeit von wenigen Monaten. Und regelmäßig liegen Ökonomen falsch. Dennoch brauchen Menschen den Blick in die Zukunft, um die Gegenwart zu ertragen. Während kurzfristige Prognosen des Öfteren zumindest einigermaßen zutreffen, ist schon der mittelfristige Ausblick meist nicht zu gebrauchen. Der Sachverständigenrat sagte im März 2022 - Russland war schon in der Ukraine eingefallen - für 2023 ein Wachstum von 3,6 Prozent hervor. Tatsächlich begann 2023 in Deutschland mit einer technischen Rezession - dem zweiten Quartal in Folge, in dem die Wirtschaft schrumpft. Ende 2023 gingen praktisch alle Ökonomen von einem Rückgang übers ganze Jahr aus. In den USA dagegen mussten viele Ökonomen und die Zentralbank ihre Vorhersage einer Rezession für 2023 kassieren. Die Vergangenheit war kein guter Wegweiser gewesen. Zentralbanken hatten mit Zinssprüngen wie den jüngsten historisch gesehen noch immer eine Krise ausgelöst. Dieses Mal war das egal, das Gegenteil geschah. Die US-Wirtschaft boomt. Ökonomen sind oft zu optimistisch Es ist nicht erst die "Poly-Krise" aus Covid-19, Ukraine, Streit mit China, Inflation und Nahost-Krieg, die Vorhersagen erschwert. Der Economist hat schon 2018 recherchiert, dass Forscher das Wachstum gerade von schrumpfenden Ökonomien von Deutschland bis Japan fast immer als zu positiv einschätzten. Die Prognose-Profis lagen nicht einmal auf zwölf Monate gesehen grob richtig. Immerhin waren sie besser als ein Zufallsgenerator. Ökonomen sind also oft zu optimistisch. Das kann auch Taktik sein. Schließlich will sich niemand nachsagen lassen, Panik ausgelöst zu haben. Denn Vorhersagen können Konsequenzen haben. Am deutlichsten zeigt sich das bei der Inflationsrate. Sie ist einerseits ein nüchterner Datenpunkt, andererseits beeinflusst dieser Datenpunkt Konsum- und Sparentscheidungen - und damit wiederum die künftige Inflation. Eine Vorhersage kann deshalb auch ein Instrument zur Beruhigung sein. Ökonomen und Zentralbanker wissen das. Sie sind vorsichtig, verpassen deshalb aber oft ökonomische Wendepunkte - wie zuletzt bei der Inflation. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist ohnehin eine Gefangene ihrer selbst. Sie hat einen hohen Anreiz, eine Inflationsrate von um die zwei Prozent vorherzusagen - schließlich ist dieser Wert erklärtes Ziel ihrer Zinspolitik. Ökonomen können nicht mehr tun, als ihre Modelle nach systematischen Fehlern zu durchforsten und sie immer wieder anzupassen. Die EZB reagierte 2022 in ihrer Kernkompetenz - dem Erkennen von Inflation - sehr spät. Womöglich hatte die lange Phase der Mini-Inflation die Fantasie verkümmern lassen. Sie hatte "außerordentliche Entwicklungen wie die nie da gewesenen Strompreis-Dynamiken und Angebotsengpässe" nicht kommen sehen. So steht es in ihrer Analyse der späten Leitzinserhöhung. Sie liest sich wie eine Entschuldigung. Aber keine Scham, das Problem mit der Zukunft ist ein zutiefst menschliches. Corona? Der Angriff der Hamas im Oktober, den selbst Israels Weltklasse-Geheimdienst als Fantasieszenario einstufte? Das sind jene "schwarzen Schwäne", auf die man sich kaum vorbereiten kann, weil man sie sich nicht vorstellen kann. Man hat ja immer nur weiße Schwäne gesehen. Gleiches galt für die Bankenkrise von 2007. Das iPhone. Donald Trump. Die Welt ist ein Zoo voller schwarzer Schwäne, deren Auftreten Fachleute dann im Nachhinein zu erklären versuchen. Weshalb es schwierig ist, von "Fehlern" der Verantwortlichen zu sprechen. Sie hatten eben keine Glaskugel, sondern nur Berater. Nicht nur die Makroökonomie hat ihre Schwierigkeiten mit der Zukunft. In der Finanzbranche verdienen viele ihr Geld mit Vorhersagen: Anleihen werden steigen, also kaufen! Diese Branche wird boomen, also investieren! Dabei ist belegt, dass aktive Investoren den Markt langfristig nur mit Glück schlagen können. Oder mit verbotenem Insider-Handel. Die Gesellschaft giert aber nach Daten. Politiker, Verbraucher, Medien wollen den Ausblick. Niemand will nur auf Sicht fahren. Den Anreiz zur Fehlprognose setzen also nicht die Ökonomen, sondern die Konsumenten der Prognosen. Weil Menschen Zahlen als Sicherheit auch dort einfordern, wo es doch nie Sicherheit geben kann.