Wednesday, January 10, 2024
Warum einflussreiche Sozialdemokraten gegen den eisernen Kanzler aufbegehren
WELT
Warum einflussreiche Sozialdemokraten gegen den eisernen Kanzler aufbegehren
Artikel von Hannah Bethke, Ulrich Exner •
5 Std.
SPD-Ministerpräsidenten stellen sich offen gegen den Kanzler-Kurs, zuletzt gab es regelrechte Affronts. Und die Bundestagsfraktion rüttelt an der Schuldenbremse. Manchem Genossen geht es dabei um viel mehr als das für die Partei bedrohliche Wahljahr. Doch Scholz zeigt kein Entgegenkommen.
Das Hadern mit der Schuldenbremse könnte der SPD noch zum Verhängnis werden. Seitdem die Ampel-Koalition mühsam eine Einigung im Haushaltsstreit erzielt hat, werden unter den Sozialdemokraten regelmäßig Stimmen laut, die das Instrument der halbwegs geretteten Schuldenbremse schon wieder infrage stellen. Dabei enthält der Kompromiss schon jetzt eine Ausnahmeregelung zur Unterstützung des Ahrtals sowie die weitere Option, sie notfalls doch wieder außer Kraft zu setzen, wenn es die Lage in der Ukraine erfordert.
Doch was Bundeskanzler Olaf Scholz vernünftig erscheint, stellt seine Partei noch lange nicht zufrieden. Erst klagten Länder und Kommunen über die falsche Migrationspolitik, dann gab es Streit um den Industriestrompreis, nun stehen die Agrarsubventionen und – wieder einmal – die Schuldenbremse zur Debatte. Zahlreiche Ministerpräsidenten der SPD, darunter Dietmar Woidke (Brandenburg), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und Stephan Weil (Niedersachsen), stellen sich gegen den Kurs der Regierung und fordern, die Subventionskürzungen für die Bauern wieder zurückzunehmen.
Das müsste den Kanzler eigentlich alarmieren: Sowohl Schwesig als auch Woidke, vor allem aber das innerparteiliche Schwergewicht Weil haben die häufig kaum nachvollziehbaren Volten und Kompromisse der Berliner Koalition in den vergangenen Monaten immer wieder zähneknirschend, aber doch weitgehend loyal mitgetragen. Selbst der Verzicht auf einen reduzierten Industriestrompreis, der für Niedersachsens Regierungschef Weil wirtschaftspolitisch verheerend ist, wurde zwar murrend, aber dann doch irgendwie klaglos hingenommen.
Dass Weil im Verbund mit Schwesig und Woidke jetzt, zu Beginn eines für die Ampel vorentscheidenden Europa- und Landtagswahljahres, doch noch öffentlich auf die Barrikaden geht und die komplette Rücknahme einer ohnehin schon modifizierten Sparentscheidung fordert, zeigt eindrücklich, für wie bedrohlich die Ministerpräsidenten die Lage für die Sozialdemokratie inzwischen halten.
Ein bemerkenswerter Affront gegen Scholz
Das betrifft direkt vor allem den Brandenburger Woidke, der im Herbst eine Landtagswahl zu bestehen hat und fürchten muss, dass die SPD als bisher stärkste Kraft in Potsdam deutlich hinter die AfD zurückfällt. Beeindruckt von der Wucht der Bauernproteste sah sich der Potsdamer Regierungschef Anfang der Woche fast schon gezwungen, sich gegen die Sparpläne des Kanzlers zu stellen und „Respekt“ sowie „Planungssicherheit“ für Deutschlands Landwirte zu fordern. Angesichts der ohnehin schon unglücklichen Rolle, die die Ampel-Koalition samt Kanzler bei diesem Thema gespielt hat, ist das ein bemerkenswerter Affront gegen Scholz und seine Bundesregierung.
Das gilt erst recht für die derzeit persönlich ungefährdeten Regierungschefs Schwesig und Weil, deren Intervention gegen die Agrarbeschlüsse der Ampel von mindestens zwei Erwägungen getragen ist: Zum einen fürchten sowohl der Niedersachse als auch die Mecklenburgerin eine zunehmende Radikalisierung der Menschen in den ländlich geprägten Regionen ihrer Bundesländer.
Zum anderen machen sie sich aufgrund des wenig vertrauenerweckenden Zustands der Ampel-Koalition schlichtweg Sorgen um die Zukunft der Sozialdemokratie. Einstellige SPD-Ergebnisse in Sachsen und Thüringen, wie sie die Umfragen in diesen beiden Ländern derzeit nahelegen, wären zusammen mit dem absehbar schlechten Abschneiden bei der Europawahl ein Desaster für alle politischen Ebenen der Partei. Es ist eben nicht klar, dass die stete Talfahrt der Sozialdemokraten in den Umfragen, aber auch in konkreten Landtagswahlen bei 14, 15 Prozent endet.
Die Grünen jedenfalls haben Anfang der Woche bei ihrer Vorstandsklausur noch einmal sehr deutlich gemacht, dass sie den Gedanken, die SPD als führende Kraft des linken Lagers bei den kommenden Bundestagswahlen abzulösen, keineswegs aufgegeben haben.
Die Botschaft, die die SPD-Ministerpräsidenten mit ihrem gemeinsamen Querschuss aus den Landeshauptstädten senden wollen, ist klar: Der Kanzler soll sich nicht länger in kleinteiligen Sparmaßnahmen verkämpfen, die jeweils Teile oder gar die gesamte Bevölkerung gegen die Ampel-Koalition und damit gegen die SPD aufbringen.
Stattdessen bedürfe es eines finanzpolitischen Befreiungsschlages. Was die Sozialdemokraten sich darunter vorstellen, liegt allerdings nicht nur quer zur FDP, sondern auch zur Position des Kanzlers, der an der mühsam erzielten Haushaltseinigung mit dem liberalen Koalitionspartner festhalten will.
In einer Beschlussvorlage der gerade begonnenen Jahresauftaktklausur der Bundestagsfraktion bestärken die Sozialdemokraten ihre Forderungen nach einer Reform der Schuldenbremse, für die sie schon auf dem Bundesparteitag plädiert hatten. Das Positionspapier der Fraktion stellt unmissverständlich klar: „Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ist nicht mehr zeitgemäß.“ Die starren Regeln seien „ein Wohlstandsrisiko für jetzige und kommende Generationen“.
Es greife zu kurz, „Generationengerechtigkeit darauf zu reduzieren, nachfolgenden Generationen keine Schulden zu hinterlassen“. Schulden müssten vielmehr „so eingesetzt werden, dass sie volkswirtschaftlich sinnvoll sind“. Dafür will die Fraktion Eckpunkte für einen „neuen haushaltspolitischen Zukunftsdeal für unser Land“ erarbeiten.
Die Ampel, im Kreislauf des Scheiterns gefangen
So weit, so unkonkret. Die SPD torpediert mit diesem Vorhaben ihr Selbstbild als Brückenbauerin. Denn sie übt sich gerade nicht in ausgleichender Moderation zwischen den Ampel-Partnern, sondern tut genau das Gegenteil: Sie verhärtet vor allem gegenüber der FDP die Fronten und kehrt dem Kanzler zumindest in Teilen den Rücken.
Vor allem aber bleibt auch in diesem Papier die entscheidende Frage offen, wie die SPD eine solche Reform der Schuldenbremse überhaupt durchsetzen will. Denn diese erfordert eine Änderung im Grundgesetz, und dafür sind die Sozialdemokraten auf die Stimmen der Union angewiesen, über die sie derzeit aber kein gutes Wort verlieren.
So wirkt das punktuelle Aufbegehren gegen den Kurs des Kanzlers ähnlich vergeblich wie das permanente Abstrampeln in der Ampel-Koalition, die mittlerweile im ewigen Kreislauf des Scheiterns gefangen ist. Man will gemeinsam im Fortschritt voranschreiten, doch sobald es konkret wird, zeigt sich ein riesiger Dissens, der in öffentlichen Zank ausartet, und kaum hat man sich zähneknirschend geeinigt, geht der Streit wieder von vorn los. Im Durcheinander der SPD zeigt sich sehr deutlich: Sparen will man nur in der Theorie. In der Praxis will keiner einstecken müssen und von der betroffenen und zunehmend wütenden Bevölkerung zur Verantwortung gezogen werden.
Scholz rührt sich derweil nicht von der Stelle – und schweigt. Vielleicht aber ist der Kanzler auch deshalb so leise, weil er sich der Gefolgschaft seiner Partei bisher sicher sein konnte. Der Bundesparteitag im Dezember, auf dem die Genossen ihn trotz aller Konflikte wie einen Sieger feierten, hat gezeigt, wie sehr er sich darauf verlassen konnte.
Die Krise ist der Kitt der Partei. Die Frage ist allerdings, wie lange das noch so bleibt.