Friday, January 5, 2024

Russische Serie über Jugendbanden: Wer um Gnade fleht, muss schießen

Frankfurter Allgemeine Zeitung Russische Serie über Jugendbanden: Wer um Gnade fleht, muss schießen Artikel von Artur Weigandt • 42 Min. Die Netzserie des russischen Fernsehsenders TNT „Slowo Pazana. Krow na asfalte“ („Ehrenwort des Jungen. Blut auf dem Asphalt“) erfreut sich derzeit großer Beliebtheit im postsowjetischen Raum. Es ist die Geschichte krimineller Jugend­licher in der tatarisch geprägten Wolga­stadt Kasan während der Agonie des Sowjetstaates Ende der Achtzigerjahre, der wahre Ereignisse zugrunde liegen. Den musikalischen Soundtrack besorgte das elektronische Hip-Hop-Duo Aigel, deren Sängerin aus der tatarischen Industriestadt Nabereschnyje Tschelny stammt und die Gefängniskultur der Region besingt. Aigels Filmmusik wurde nahezu 13 Millionen Mal auf Youtube auf­gerufen. Bemerkenswerterweise begeistern sich außer jugendlichen Russen auch Ukrainer für das mit Mitteln des russischen Staates finanzierte Gangsterepos. „Slowo Pazana“ beruht auf der gleichnamigen Dokumentation des Journalisten Robert Garajew, der seinerzeit selbst kurze Zeit Mitglied einer Kasaner Bande war und die Serie eine Zeitmaschinenreise durch die dunklen Gassen der Seele nennt. Man erkenne sich darin, so Garajew, als jemanden, der Schmerz verursacht hat. Die Dreharbeiten zur Serie begannen vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine, als Straßenkriminalität noch als historisches Phänomen galt. Der Kriegsheimkehrer revolutioniert ungeschriebene Gesetze Der Zuschauer erlebt, wie der Gymnasiast Andrej, der mit seiner kleinen Schwester bei seiner Mutter lebt, von den städtischen Hooligans verfolgt wird. Da er keiner Gruppierung angehört, betrachten sie ihn als „Chushpan“, ein tatarisches Schimpfwort für einen „Versager“, den man straflos malträtiert. Schutz bietet Andrej sein Freund Marat, der zur fiktiven Kasaner Gruppe „Universam“ gehört, wie auch sein großer Bruder Wowa (gespielt von Iwan Jankowski), der traumatisiert aus dem Kriegseinsatz in Afghanistan zurückkehrt und die Gruppe militarisiert. Wowa, der nur Männer mit Kampferfahrung respektiert, zugleich aber die Armeeführung als Verräter an den Soldaten verachtet, ist ei­ne Schlüsselfigur, weil er die ungeschriebenen Regeln der Straße bricht. Der Kodex der Jugendbanden, der sich vom „Ethos“ russischer Krimineller herleitet, verbietet es, um Gnade zu flehen. Doch Wowa tut das, als er im Nahkampf Gegnern unterliegt, aber nur, um diese wenig später bei einer Verhandlungsrunde, gegen alle Regeln verstoßend, mit Schusswaffen niederzustrecken. Der Regisseur Schora Kryschownikow choreographiert Straßenkämpfe, deren Es­kalation er durch abrupte Schnitte und pulsierende Bilder unterstreicht. Die Vorwegnahme der Biographien der Protagonisten und die Einblendung ihres Todesdatums verleihen dem Geschehen his­torische Beispielhaftigkeit. Die Kulissen der späten Achtzigerjahre spiegeln die Ästhetik und das Lebensgefühl einer Zeit gesellschaftlichen Zerfalls und zunehmender Brutalisierung. Die Figur des Kriegsheimkehrers Wowa, der im zivilen Leben Bandenführer wird, erscheint indes heute als Symbolheld des jetzigen Russland unter Putin und macht „Slowo Pazana“ zur unfreiwilligen Hommage an die Folgen des Ukrainekrieges. Die Serie zeigt auch den Zynismus der staatlichen Ordnungshüter. Zwar gibt es eine anständige Polizistin namens Irina Sergejewna, die einstmals Lehrerin werden wollte. Sie hört in ihrer Freizeit Rockmusik, sucht den Kontakt zu den Jugendlichen und macht Andrej und Marat, die eigentlich aus guten Elternhäusern kommen, nach einer Schlägerei zwischen den Banden Vorwürfe. Doch dann stürmen ihre Polizeikollegen die Wohnung der jungen Männer und nehmen sie fest. Jugendliche stellen die Straßenkampfszenen nach In der Perestroika war das Sowjetsystem durch die Privilegien der Nomenklatura-Kaste diskreditiert, zugleich wurde die Staatsmacht immer schwächer. Die „Jungs“ erleben soziale Auseinandersetzungen als Kampf, bei dem der Stärkere Recht bekommt und Betrug belohnt wird. Also gründen sie Existenzen nach den Gesetzen des Steppenkapitalismus, indem sie bei Unternehmen und Kleinhändlern Schutzgeld erpressen. Die „Jungs“ werden im Film aber auch scherzhaft mit den Musketieren von Alexandre Dumas verglichen, wodurch sie als Kinder von gestern erscheinen, die romantische Rollen zu spielen versuchen. Die Auswirkungen der Serie sind freilich keineswegs harmlos. Noch während die letzten Folgen ausgestrahlt wurden, gab es Medienberichte, wonach in Tatarstan, in Dagestan, aber auch im zentralasia­tischen Kasachstan Jugendliche sich zu Gruppen versammelten, Kämpfe inszenierten und, mit Aigel-Musik unterlegt, auf Telegram posteten, wenngleich offenbar spielerisch, ohne dass jemand verletzt worden wäre. Doch im ostsibirischen Gebiet Irkutsk wurde ein Junge, offenbar weil er „fremdes“ Territorium betreten hatte, zu Tode geprügelt. Regionale russische Medien berichten, Teenager würden die Serienhelden imitieren und bei Raufereien ihre Aussprüche zitieren. Straßenkämpfe wie in Kasan waren in der Spätphase der Sowjetunion nicht nur für russische Industriestädte typisch, sondern auch für ukrainische. Daher fühlen sich viele ältere Ukrainer durch „Slowo Pazana“ an ihre Jugend erinnert. Jüngere und gebildetere Ukrainer hingegen, die alles Sowjetische ablehnen, tadeln diese „Romantisierung“ der Vergangenheit und verlangen in den sozialen Medien, die Serie zu boykottieren. Darin stimmen sie ironischerweise mit einigen russischen Amtspersonen überein, etwa der Vorsitzenden des Duma-Ausschusses für Familienfragen, Nina Ostanina und der Beauftragten für Kinderrechte in Tatarstan, Irina Wolynez, die sich an die Auf­sichts­behörde Roskomnadsor mit der For­de­rung wandten, die Erfolgsserie zu ver­bieten, weil sie widerrechtliches Verhal­ten und Jargonsprache verherrliche. Der Filmregisseur und Putin-Vertraute Nikita Michalkow verteidigt indes Kryschownikows Werk als talentiert und wahrheitsgetreu. Jugendlichen müsse man die Wahrheit zeigen, so Michalkow. Wenn sie dann aber den Weg negativer Kinohelden einschlügen, so sei das die Schuld ihrer Sch. . .eltern.