Friday, January 5, 2024
China macht Taiwan ein Angebot – doch ausser auf einer kleinen Insel will man dort nichts davon wissen
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
China macht Taiwan ein Angebot – doch ausser auf einer kleinen Insel will man dort nichts davon wissen
Artikel von Matthias Kamp, Pingtan, Xiamen; Patrick Zoll, Kinmen •
9 Std.
Der Strand von Kinmen ist mittlerweile entmint, doch alte Abwehranlagen stehen noch. Am gegenüberliegenden Ufer wächst die chinesische Grossstadt Xiamen in die Höhe.
Eine bessere Aussicht als Chen Tsang-chiang hat auf Kinmen kaum jemand. Von seinem Büro im elften Stock hat er ganz Jincheng im Blick, den Hauptort der Insel. Und bei gutem Wetter sieht Chen auch die glitzernde Skyline der Millionenstadt Xiamen. Dort, auf dem chinesischen Festland, steht Wolkenkratzer an Wolkenkratzer. Im etwas verschlafenen Kinmen, das zu Taiwan gehört, sind nur wenige Gebäude höher als drei oder vier Stockwerke.
Chens Blick fällt auch auf eine moderne Brücke. Sie verbindet seit kurzem Kinmen mit der Nachbarinsel Klein-Kinmen. Doch der 68-Jährige, der früher für die Demokratisch-Progressive Partei (DPP) politisiert hat, träumt von einer weiteren Verbindung über das Wasser: «Nur eine Brücke nach Xiamen kann Kinmens Zukunft sichern.»
Von der Frontgarnison zum Brückenkopf
Für Chen und für viele andere auf Kinmen ist klar: Kinmen und Xiamen gehören zusammen. Denn traditionell waren die Verbindungen von der Insel, wo heute knapp 130 000 Menschen leben, zum nahe gelegenen Festland eng. Administrativ zählt Kinmen zur Provinz Fujian. Das sieht selbst die Regierung in Taipeh so: Auf den Identitätskarten der Inselbewohner – ausgestellt von der Republik China, wie sich Taiwan offiziell nennt – steht noch heute «Kinmen, Provinz Fujian».
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1949 gewannen die Kommunisten den Chinesischen Bürgerkrieg. Die unterlegenen Nationalisten der Kuomintang (KMT) flohen nach Taiwan, behielten aber die Kontrolle über Kinmen und ein paar andere, nur wenige Kilometer vor dem Festland gelegene Inseln. Mehrere Versuche der Volksbefreiungsarmee, Kinmen zu erobern, scheiterten. Jahrzehntelang war die Insel eine Frontgarnison, verteidigt von mehreren zehntausend Soldaten, die sich in jeden Hügel eingruben und jeden Strand mit Minen, Stacheldraht und Betonblöcken sicherten.
Frustriert, dass sie die Insel nicht einnehmen konnten, beschossen die Kommunisten Kinmen zwischen 1958 und 1978 jeden zweiten Tag mit Artillerie. Da die Granaten nicht mit Sprengstoff gefüllt waren, war der Effekt in erster Linie propagandistischer Natur. Dass es Ausnahmen gab, zeigt ein verrostetes Geschoss in Chens Büro: Am 11. Oktober 1965 schlug es bei der Familie Chen durchs Dach, grub sich einen halben Meter neben dem Bett des damals Zehnjährigen in den Boden. Seine Mutter, so erzählt Chen ganz ruhig, habe durch eine Granate beide Beine verloren.
Doch als sich Anfang des Jahrtausends die Beziehungen zwischen Peking und Taiwan entspannten, wurde Kinmen zu Taiwans Sprungbrett nach China. Seit 2008 gibt es eine direkte Fährverbindung nach Xiamen – nach einem Covid-bedingten Unterbruch fahren die Schiffe wieder stündlich. Und seit fünf Jahren bezieht Kinmen sein Trinkwasser aus Xiamen. Die Zahl der Soldaten ist auf wenige tausend gesunken – eine lokale Initiative fordert gar die komplette Demilitarisierung.
Im Gegensatz zur Hauptinsel Taiwan, wo die Volksrepublik von vielen mit Misstrauen gesehen wird, sieht die Mehrheit der Bevölkerung von Kinmen eine engere Anbindung ans Festland als positiv an.
Peking plant die Anbindung Taiwans
Rund 170 Kilometer nördlich soll eine andere Insel eine ähnlich verbindende Funktion übernehmen wie Kinmen. Pingtan hat, was Kinmen noch fehlt: Sie hat gleich zwei Brücken zum nahe gelegenen Festland. Denn Pingtan gehört zur Volksrepublik. Auch das landesweite Netz von Hochgeschwindigkeitszügen erreicht Pingtan.
Der moderne Bahnhof aus hellem Stein mit einer funkelnden Glasfassade wirkt ein wenig zu gross geraten für die rund 450 000 Einwohner der Insel – was in China einer relativ kleinen Ortschaft entspricht. Wenn es nach den Vorstellungen der chinesischen Regierung geht, steht Pingtan aber eine grosse Zukunft bevor. Nirgends ist die in Pekings Augen «abtrünnige Insel» Taiwan so nah dem «Mutterland»: Knapp 130 Kilometer breit ist die Strasse von Taiwan hier. Ein Tunnel oder eine Brücke soll Taiwan einst ans chinesische Festland anbinden.
Dass es dazu kommen wird, daran bestehen für Lin Qinfu keine Zweifel. «Natürlich kommt die Vereinigung», sagt der Sekretär der Kommunistischen Partei von Guangyu auf Pingtan. Von der Terrasse seines kleinen Büros blickt Lin aufs offene Meer – in Richtung Taiwan.
Lin war schon einige Male in Taiwan – und hegt Bewunderung für den Inselstaat. «Taiwan ist entwickelter und sauberer», sagt der Lokalpolitiker. Jetzt will er an der Annäherung zwischen China und Taiwan mitwirken. Zurzeit ist Lin damit beschäftigt, den Jugendaustausch zwischen Pingtan und Taiwan wiederzubeleben. Während der drei Pandemiejahre ruhte das Projekt.
Doch die chinesische Regierung will noch weit mehr: So versucht sie taiwanische Investoren nach Pingtan zu locken. Auch der Handel von Gütern und Dienstleistungen zwischen Pingtan und Taiwan soll erleichtert werden.
So sieht es ein 21-Punkte-Programm zur Integration der Provinz Fujian (zu der Pingtan gehört) mit Taiwan vor, das Chinas Machthaber Mitte September vorgestellt haben. Dass sie dies vier Monate vor den taiwanischen Präsidentschaftswahlen taten, dürfte kein Zufall gewesen sein. Die Führung der Kommunistischen Partei versucht damit zu signalisieren, dass sie es ernst meint, wenn sie sagt, sie wolle Taiwan auf friedlichem Weg «heimholen».
Auf Taiwan wurden diese Signale aber kaum beachtet. Es handle sich um eine Intrige Pekings, Inseln wie Kinmen stärker vom Festland abhängig zu machen und diese zu unterjochen, schrieb die «Taipei Times». Dass China gleichzeitig mit der Ankündigung des Programms grosse Militärmanöver durchführte, liess in Taiwan den Verdacht zunehmen, dass es sich bloss um leere Worte handle. Im taiwanischen Präsidentschaftswahlkampf spielt Pekings «Angebot» keine Rolle.
Der Ort auf Pingtan, der am nächsten bei der Insel Taiwan liegt, ist eine chinesische Touristenattraktion.
Pingtan ist mit einer 16 Kilometer langen Strassen- und Eisenbahnbrücke ans chinesische Festland angebunden. Viele Einwohner Kinmens träumen von einer ähnlichen Verbindung.
Peking hält unbeirrt an seinem Plan fest. In dessen Mittelpunkt steht der gesellschaftliche und kulturelle Austausch – mit Pingtan als Zentrum. Der Parteisekretär Lin bemüht sich beispielsweise darum, taiwanische Lehrer auf die Insel zu holen.
Einer, der diesem Ruf gefolgt ist, heisst Tu Zengyou. Der 35-jährige Sportlehrer stammt aus dem Süden Taiwans und kam vor drei Jahren nach Guanglou, einem Nachbarort von Guangyu, in dem der Parteisekretär Lin herrscht. Tu lockte auch das attraktive Salär, das die lokalen Behörden taiwanischen Lehrern bieten.
«Viele Menschen auf Taiwan realisieren gar nicht, wie ernst die Lage ist», sagt Tu, als er auf das angespannte Verhältnis zwischen China und Taiwan zu sprechen kommt. Im Sommer 2022 etwa hatte er grosse Angst um seine Eltern, die auf Taiwan leben. Als Nancy Pelosi, die damalige Speakerin des amerikanischen Repräsentantenhauses, im August die Insel besuchte, antwortete Peking mit massiven Militärmanövern rund um Taiwan. Tu zieht sein Handy hervor und zeigt ein Video, das er im Sommer 2022 aufgenommen hat. Es zeigt Raketen, welche die Volksbefreiungsarmee damals in Richtung Taiwan abfeuerte.
Der 21-Punkte-Plan macht klar: «Die Lösung der Taiwan-Frage und die vollständige Wiedervereinigung Chinas sind für die Partei eine historische Aufgabe, zu der sie sich bedingungslos verpflichtet hat.» Dies entspricht dem, was Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping selber immer wieder sagt, auch bei seinem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden im November. Dass er diese «Wiedervereinigung» notfalls auch mit militärischer Gewalt herbeiführen würde, daran lässt Xi keine Zweifel.
Auch Lin Qinfu, der Parteisekretär auf Pingtan, droht den Taiwanern ganz offen. «Sollte Taiwan sich für unabhängig erklären, ist das Spiel aus», sagt Lin, «wir sind 1,4 Milliarden Menschen und werden immer gewinnen.»
Die Taiwaner trauen Pekings Versprechen nicht
Vorerst scheinen Chinas Machthaber aber am Status quo festhalten und die Integration vorantreiben zu wollen. «Wir werden den Austausch mit Taiwan vertiefen», sagt Zhang Wensheng, der das Graduate Institute of Taiwan Studies an der Universität Xiamen leitet. Bis zum Beginn der Pandemie unterhielt sein Institut eine Kooperation mit der Chinese Culture University in Taipeh. Die beiden Hochschulen hielten gemeinsame Konferenzen ab. Jetzt, da die Reisebeschränkungen aufgehoben sind, will Zhang die Zusammenarbeit wieder aufnehmen.
Für eine langfristige Vereinigung Chinas mit Taiwan hält er das Hongkonger Modell «Ein Land, zwei Systeme» für ungeeignet. Taiwan müsse mehr Autonomie haben, meint Zhang und erinnert an die Überlegungen von Chinas Reformpatriarchen Deng Xiaoping. Dieser habe versprochen, China werde im Fall der Vereinigung – anders als in Hongkong – auf Taiwan kein Militär stationieren, ausserdem würde Peking keine Regierungsbeamten auf die Insel entsenden.
Auf Taiwan traut kaum jemand solchen Versprechungen. Selbst Hou Yu-ih, der Präsidentschaftskandidat der chinafreundlichen KMT, verspricht, die Verteidigung Taiwans auszubauen. Auf Kinmen hingegen klingt es anders: Hier fürchten viele, bei einem allfälligen Konflikt zwischen die Fronten zu geraten. Daher die Idee, die Inseln zu demilitarisieren. Stark macht sich dafür Chen Yang-hu, ein lokaler Politiker der KMT. Er sagt: «Damit können wir China unsere Freundschaft zeigen.» Und: «Wir sind doch eine Familie, wie können wir uns bekämpfen?»
Von Kinmen nach Xiamen in die weiterführenden Schulen
Zou Lei und Chen Shi-lun schlagen als Familie die Brücke zwischen China und Taiwan. Die Coiffeuse Zou stammt aus China und ist mit dem Feuerwehrmann Chen verheiratet, der aus Kinmen stammt. Sie lernten sich in Xiamen kennen, zogen zuerst gemeinsam nach Taiwan und leben nun seit drei Jahren auf Kinmen. Die Kunden ihres Coiffeursalons in Jincheng stammten alle aus der Nachbarschaft, sagt Zou: «Sie behandelten mich wie eine von ihnen.»
Zou sagt, dass es 2000 bis 3000 chinesische Frauen auf Kinmen gebe, welche hierher geheiratet hätten. Sie selber fährt regelmässig nach Xiamen zum Shoppen: «Die Auswahl ist dort einfach viel besser als auf Kinmen.» Im Vergleich zur Grossstadt Xiamen sei Kinmen schon sehr rückständig.
Das Ehepaar begrüsst, dass die Einwohner von Kinmen mit dem 21-Punkte-Plan in Fujian besondere Privilegien erhalten. So überlegen sie sich, ihre beiden Kinder im Teenageralter für die weiterführenden Schulen nach Xiamen zu schicken. In den letzten Jahrzehnten mussten Jugendliche aus Kinmen dazu immer auf die Hauptinsel Taiwan übersiedeln.
Sind Politik oder ein möglicher Konflikt zwischen China und Taiwan denn nie ein Thema in Zous Coiffeursalon? «Nein», sagt sie. Und fügt dann an: «Manchmal scherzen meine Kunden, ich solle sie dann warnen, wenn China angreife. Ich würde als Chinesin ja sicher vorinformiert.» Sie lächelt. Das sei natürlich nur harmloser Smalltalk.