Thursday, January 18, 2024
Marseille: „Gewalt, überall Gewalt“
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Marseille: „Gewalt, überall Gewalt“
Artikel von Stefan Brändle •
3 Std.
Drogenkriminalität
Avenue-Saint-Thys: In dem langsam verfallenden Einwandererviertel sind die meisten Geschäfte dauerhaft geschlossen.
Marseille gerät immer mehr in den Griff der Drogenbanden. Frustriert von der Einfallslosigkeit der Behörden, nehmen einige Menschen jetzt die Dinge selbst in die Hand. Eine Reportage.
Man muss gut hinschauen, hier in Saint-Thys, einem langsam verfallenden Einwandererquartier von Marseille, um die Einschusslöcher zu sehen. Eines prangt im Schaufenster der Apotheke. Drinnen steht die Verkäuferin hinter der Kasse, als wäre nichts. Die meisten anderen Geschäfte sind geschlossen, ihre rostigen Rollläden sind seit langem unten. Weitere Löcher im zweiten Stockwerk auf der anderen Straßenseite sind bereits mit Gips zugedeckt.
„Dort lebte Socayna“, sagt Fouzi Saadi, der im 20-stöckigen Wohnturm oben an der Straße aufgewachsen ist, auch im zweiten Stockwerk. „Die Waffen der beiden Schützen waren zweifellos Kalaschnikows, so stark, dass sie die Fassade durchdrangen“, weiß Saadi als langjähriger Lokalpolizist. Socayna, eine 24-jährige Jurastudentin, die gerade über ihren Büchern brütete, überlebte es nicht, sie wurde in ihrer eigenen Wohnung tödlich getroffen, von einer „balle perdue“, wie Saadi meint – einer „verlorenen Kugel“.
Die Stadt wird seit Monaten von zwei Drogenkartellen terrorisiert
Socayna ist eines von 48 Opfern des unerbittlichen Krieges zwischen zwei Drogenbanden in Marseille. Im Viertel Saint-Thys wollten die ganz in Schwarz gekleideten Dealer vielleicht gar niemanden erschießen, wie Saadi schätzt. Sie hätten „neues Terrain markieren“ wollen, kamen wohl aus dem Nachbarviertel Château-Saint-Loup, das anders als Saint-Thys bereits von einer Gang kontrolliert wird. „Ein ‚guetteur‘ (Späher) überwacht die Zufahrt und meldet Auswärtige weiter“, informiert Fouzi Saadi. „Da fahren wir besser nicht hin.“
Alltag in Marseille. Die nach Nordafrika orientierte Hafenstadt, früher das französische Neapel genannt, wird seit Monaten von zwei Drogenkartellen terrorisiert. Am schlimmsten sei es, so Saadi, in der Trabantensiedlung La Castellane, die in den Neunzigern das französische Fußballidol Zinedine Zidane hervorgebracht hatte.
„Sogar wenn dort ein Handwerker für eine Reparatur hinfährt, wird sein Fahrzeug gefilzt“, sagt der Marseiller Flic. „Und nicht von der Polizei, sondern von den Spähern der Banden.“ Diese modernen Tagelöhner seien meist nur 15 oder 16 Jahre alt, manchmal auch nur zwölf. Saadi kennt die Lohnskala im Drogenmilieu: 50 bis 150 Euro am Tag gibt es für einen „guetteur“, 200 für einen Dealer, 500 Euro für die Lokalchefs, die „gros bras“ (dicken Arme).
Der Boxklub findet sich in einem schlecht beleuchteten Hinterhof. Jetzt soll wenigstens die Fassade schöner werden.
Gehen diese Jungs nicht mehr zur Schule? „Nur noch offiziell“, antwortet Saadi auf dem abendlichen Spaziergang durch das Viertel. Ein lautes Geräusch im Rücken, man schaut sich um. „Keine Sorge“, beruhigt der Gendarm. „Saint-Thys ist derzeit ruhig.“
In einem schlecht beleuchteten Hinterhof besuchen wir Saadis Lebenswerk, den Boxklub von Saint-Thys. Ein paar Jugendliche warten schon vor der Tür des baufälligen Lokals. Man „checkt“ (grüßt) sich mit geschlossener Faust. Drinnen herrscht bald eine umtriebige Atmosphäre wie im Film „Million Dollar Baby“. Trainer Clint Eastwood, das ist Fouzi Saadi – der ganz für die Jungen da ist, auch wenn er sie hart anpackt.
Zum Aufwärmen dreht der Chef mit ihnen ein paar Runden, dann ziehen die Jungs und Mädels die Boxhandschuhe an. Im Ring trainiert Sofiane zwei Jugendliche aufs Angreifen aus der Defensive. Der Trainer boxt nicht nur, er betreibt auch die brutale Kampfsportart MMA, wie ein imposantes Wandplakat aus der Arena von Marseille zeigt.
Sofiane ist hier eine große Nummer, ein Vorbild. Illusionen macht er sich aber nicht. „Wir versuchen, die Jungs auf den rechten Weg von Respekt und Anstand zu bringen – aber das geht nur, solange sie hier sind“ seufzt er. „Was sie wirklich interessiert, ist Tiktok und Geld. Und die Drogengangs zahlen gut.“
Lehrt das Boxen die Jungen wenigstens, Aggressivität zu kanalisieren und mit der sozialen Gewalt in der ehemaligen Mafia-Stadt Marseille umzugehen? Nicht auf Dauer, glaubt Sofiane. „Die Mafiosi der Achtziger und Neunziger Jahre hatten ihren Ehrenkodex. Sie knallten nicht einfach drauflos. Die heutige Dealer-Generation hat kein Bewusstsein mehr, was Leben heißt, was Tod.“
48 Tote im letzten Jahr, jede Woche einer, das ist Rekord selbst für Marseille, einen Drogen-Hotspot Westeuropas. Die meisten Opfer sind Dealer, wurde von einer Kalaschnikow-Salve niedergestreckt. Einer wurde aus der Moschee geschleppt und auf dem Vorplatz exekutiert. Oft werden ihre verkohlten Leichen in Autowracks gefunden.
Der festgenommene Chauffeur eines Killers erzählte der Polizei, für einen toten Gegner gebe es 10 000 Euro, für einen Verletzten die Hälfte, für alle anderen Fälle nichts. Warum ein bestimmter 18-Jähriger das Leben lassen musste, erklärte er so: „Wenn er tot ist, dann wird er schon nicht ganz unschuldig gewesen sein.“
Die beiden Gangs, die sich vor allem in den heruntergekommenen Nordvierteln von Marseille bekriegen, nennen sich, wie den Wandgraffitis in Marseille zu entnehmen ist, Yoda und DZ Mafia. Wobei „DZ“ für „Algerien“ steht. Ursprünglich arbeiteten die beiden Bosse zusammen, doch eines Tages zerstritten sie sich.
Der Arzt stellte fest, dass im Kiefer des Mannes eine Kugel steckte
Seither berichtet das Regionalblatt „La Provence“ täglich über die Toten und Verletzten, letztere dreimal zahlreicher. Anfangs Januar suchte ein 26-Jähriger im ersten Bezirk von Marseille eine Notfallstation auf, weil er unglücklich auf den Kopf gefallen sei, wie er sagte. Der Arzt stellte fest, dass im Kiefer des Mannes eine Kugel steckte.
Was tun die Behörden gegen den Drogenkrieg? Innenminister Gérald Darmanin ließ die Kriminalpolizei in Marseille 2023 um 400 Personen aufstocken und entsandte eine ganze Kompanie Einsatzkräfte. Emmanuel Macron erklärte bei einem Besuch in Marseille, es dürfe keine Viertel mehr geben, in die sich nicht einmal mehr die Polizei traue. Der Präsident ordnete 20 neue Untersuchungsrichterinnen und -richter nach Marseille ab. 52 Prozent der Milieumorde bleiben indes unaufgeklärt, und damit ohne Urteil. Zwei große Drogenbosse sollen in Haft sein. Ihr Geschäft betreiben sie aber von dort aus.
Die Bürgermeisterin der hauptbetroffenen 15. und 16. Stadtbezirke, Nadia Boulainseur, fordert in ihrem schmucken Rathaus, die Polizei müsse nicht nur die kleinen Dealer verfolgen. Die Komplizen der großen Nummern, darunter „die Banken und die Finanzparadiese“, gingen zu oft straflos aus. „Die Gefängnisse müssen wieder Orte der Resozialisierung werden, nicht der Rückfälligkeit“, sagt die Sozialistin. „Eltern erzählen mir jeden Tag von ihrer Angst, dass ihre Kinder in das äußerst gewalttätige Milieu des Drogenhandels abdriften. Das können wir nicht zulassen.“
Viele Menschen glauben den Politikerversprechen nicht mehr. Einige nehmen die Dinge selber in die Hand. In der Wohnsiedlung Campanules, unweit von Saint-Thys gelegen, haben unerschrockene Mütter die Dealer rausgeworfen. Fatima, Mutter von drei zwölf- bis 21-jährigen Söhnen, erzählt, wie sie sich einmal ein Herz gefasst habe. Sie stellte sich in der Eingangshalle ihres 15-stöckigen Wohnturmes H einem blutjungen Dealer in den Weg und fragte: „Wohnst du hier?“ – „Nein, ich arbeite hier“, habe er erwidert. „Aber du weißt, dass Drogenhandel illegal ist?“, sagte Fatima. – „Alle machen das.“
Der Dialog führte nicht weiter, aber die Nachbarinnen ließen nicht locker. Fatima ließ sich auch nicht beeindrucken, als ihr einmal ein junger Mann im Erdgeschoss zusammen mit zehn Kumpels den Weg versperrte. Sie hielt den bösen Blicken stand, blieb, bis der Mann selber abzog.
Fatimas Freundin Océane, die das Anwohnerkollektiv mit 420 Wohnungen leitet, berichtet im Parterre-Lokal des Turmes H bei Orangensaft und Biskuits, dass Campanules sehr geeignet sei für Dealer und Drogenkäufer, da die Siedlung über drei Zugänge verfüge. „Unser Verpächter Erilia half uns aber, indem er zwei Monate lang gut geschultes Wachpersonal aufbot. Dazu dreht die Gemeindepolizei Runden. Da merkten die Dealer, das es uns ernst war.“
In der übel beleumundeten Nachbar-Cité Air-Bel funktioniert der Widerstand weniger gut
Fatima fällt ein: „Wir sind Mütter, wir sind Löwinnen!“ Das ist nur halb gescherzt. „Wir müssen unsere Kids schützen. Wir haben hier eine Kinderkrippe, dazu ein Behindertenlokal. Da ist kein Platz für Dealer.“ Nach mehreren Wochen offenen Konflikts zogen diese schließlich ab. Erilia ließ an den Eingängen Schlagbäume errichten und finanzierte Überwachungskameras. „Seither lassen sie uns in Ruhe“, sagt Océane.
In der übel beleumundeten Nachbar-Cité Air-Bel funktioniert der Widerstand weniger gut. Dort haben sich die Dealer eingenistet, ihre Tarife für Shit und Coke pinseln sie in den Wohntürmen an die Wände der Treppenhäuser. „Und das sind meistens Minderjährige!“, schüttelt Nachbarin Amel den Kopf. Sie ist aufgebracht über die Eltern und die Schule, die das zuließen. Aber gibt es nicht viele alleinerziehende Mütter, die überfordert sind, denen ihre Söhne über den Kopf wachsen? „Ach was, ich ziehe meine Kinder auch allein groß“, entgegnet Amel. „Und ich arbeite nachts. Dann kommt mir kein Kind vor die Haustür!“
Fatima schimpft über die sozialen Medien. „Tiktok frisst das Gehirn auf“, sagt die großgewachsene Frau aus Algerien. Doch die kleinen Dealer mag sie nicht verurteilen. „Das sind oft noch Kinder. Wenn sie einmal in einer Gang sind, kommen sie nicht mehr raus. Sie werden wie Sklaven gehalten.“ Fatimas Löwenlaune schwindet. „Und später zahlen sie es den anderen heim. Gewalt, überall Gewalt. Marseille ist nicht mehr Marseille.“