Monday, January 8, 2024
Als Goethe keine Verse mehr einfallen wollen, eilt ihm sein Schwager zu Hilfe
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Als Goethe keine Verse mehr einfallen wollen, eilt ihm sein Schwager zu Hilfe
Artikel von Rainer Moritz •
1 Std.
Der Schriftsteller Charles Lewinsky holt in seinem neuen Roman Goethe sanft vom Sockel herunter.
An Versuchen, den Dichterheros Goethe von seinem Podest zu stürzen, hat es nie gemangelt. Nach seinem Tod setzten sich die Vertreter des Jungen Deutschland heftig von ihrem Übervater ab, und auch Martin Walser brauchte im 20. Jahrhundert lange, bis er seinen Essay «Goethes Anziehungskraft» und seinen Roman «Ein liebender Mann» schreiben konnte. Charles Lewinsky, der nie um gute Einfälle verlegene Zürcher Autor, hat mit solchen Abgrenzungen und Annäherungen nichts am Hut und begegnet dem Weimarer Olympier auf nonchalante, unerschrockene Weise.
Sein Roman «Rauch und Schall» spielt um 1800. Goethe kehrt von seiner dritten Schweizer Reise nach Weimar zurück. Misslichkeiten plagen ihn: Er leidet unter Hämorrhoiden, die er mässig erfolgreich mit Ringelblumensalbe behandelt. Ausserdem bahnt sich gerade eine Schaffenskrise an. Was er seinem Sekretär bei der Kutschfahrt durch die Schweiz an Gedankenblitzen diktiert, ist dürftig. Und kaum zu Hause, wird er angemahnt, ein (glücklich verdrängtes) Festgedicht zum Geburtstag der Herzogin vorzulegen. Doch es will ihm partout kein einziger brauchbarer Vers gelingen. Er hat eine veritable Schreibblockade.
Goethes Ruhm erlaubt es ihm nicht, die Misere einzugestehen. Herder oder Schiller darf er damit nicht kommen. Lediglich seiner Lebensgefährtin (und späteren Gemahlin) Christiane Vulpius offenbart er sich. Denn es ist Not am Mann, die Geburtstagsverse dulden keinen Aufschub. Rettung naht – obwohl Goethe diese anfangs scharf zurückweist – aus dem unmittelbaren privaten Umfeld: Christianes Bruder Christian August Vulpius, ein «zu wahrer Kunst nicht berufener Vielschreiber», der seine dürftige Bezahlung als Bibliotheksregistrator mit dem unablässigen Verfassen von Trivialromanen aufbessert, bietet sich an. Und alsbald präsentiert er «Stanzen», die sein zukünftiger Schwager mit grösster Überwindung akzeptiert und als eigenes Poem ausgibt. Der Erfolg ist pikanterweise gross; der Herzog selbst hält sich mit Lob nicht zurück: «Solche Verse schreibt sonst niemand.»
Therapie für den Dichter
Charles Lewinskys hat mit «Rauch und Schall» – das zeigt sich nach wenigen Seiten – einen urkomischen Roman geschrieben, der Goethe nicht demontiert, sondern ihn als Autor zeigt, dem Verse für die Ewigkeit auch nicht alle Tage glücken. Wir erleben ihn in vielen grossartigen, dialogstarken Szenen als verzweifelten Mann, der seine Verzweiflung nicht zeigen darf. Pegasus lässt sich nicht mehr befehligen, und auch die Weimarer Amtsgeschäfte und Intrigen machen ihm zu schaffen.
Selbst dem leidenschaftlichen, das Bettgestell in Mitleidenschaft ziehenden Sex mit der Gefährtin stellen sich Hindernisse in den Weg: Als man eines Nachmittags alle potenziellen Störenfriede aus dem Haus verbannt hat, um variantenreiche Erotik zu praktizieren, klopft der Registrator Vulpius unversehens an die Tür – das Schäferstündchen muss ausfallen.
So geringschätzig Goethe den für schnödes Geld schreibenden Vulpius behandelt, so sehr ist er auf ihn angewiesen. Die Not, die das Geburtstagsgedicht hervorruft, bleibt bestehen. Selbst Schillers Allheilmittel – faule Äpfel in der Schreibtischschublade – sorgt für Übelkeit statt für Abhilfe. Als sich der Herzog der jungen Schauspielerin Karoline Jagemann annähern will, bestellt er bei seinem Haus-und-Hof-Dichter Liebesverse, die Eindruck machen sollen. Wieder fällt diesem nichts ein, doch zum Glück gibt es Vulpius, der auf eigene längst vergessene Werke, auf seine «Redoutenlieder», zurückgreift. Er hilft Goethe abermals aus der Patsche, und der liebeshungrige Herzog zeigt sich hoch zufrieden.
Auf die Dauer ist Goethe damit nicht gedient. Und erneut weiss Vulpius Rat. In abendlichen Gesprächen präsentiert er Goethe eine «Therapie» für Schreibblockaden aller Art: «Ihr Problem könnte etwas damit zu tun haben, dass Sie bei allem, was Sie schreiben, den Anspruch haben, etwas Bedeutendes zu schreiben.» Von dieser Ambition, so Vulpius, müsse sich Goethe lösen und, ohne an sein Renommee zu denken, befreit am Stehpult zu Werke gehen. Vulpius regt den Blockierten dazu an, eine «Räuberpistole mit viel Abenteuer und Liebe» zu schreiben und an die literarische Qualität keinen überflüssigen Gedanken zu verschwenden.
Grosses Lesevergnügen
Und siehe da, der Ratschlag fruchtet. Goethe gerät in einen Schreib-Flow und reiht haarsträubende in Italien spielende Episoden aneinander – bis am Ende ein opulentes Manuskript mit dem Titel «Rinaldo Rinaldini» auf dem Tisch liegt. Warum dieses dann 1801 unter Vulpius’ und nicht unter Goethes Namen auf den Markt kommt (und wie einst der «Werther» sensationelle Erfolge feiert), welche Auswirkungen das auf die Weimarer Gesellschaft hat und ob Goethes Hämorrhoiden Heilung erfahren, das sei hier nicht verraten.
Die Goethe-Forschung sollte sich auf jeden Fall durch Lewinsky anregen lassen. Offenkundig scheint sie das eine oder andere übersehen zu haben. Charles Lewinskys Roman «Rauch und Schall» ist, um «Faust» zu zitieren, alles andere als Schall und Rauch. Er ist ein sehr grosses Lesevergnügen.