Friday, April 11, 2025
„Amerika geht unter“: Historikerin Shore über drohenden Bürgerkrieg in den USA
Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Amerika geht unter“: Historikerin Shore über drohenden Bürgerkrieg in den USA
Tania Martini • 20 Std. • 9 Minuten Lesezeit
Sie haben entschieden, gemeinsam mit Ihrem Ehemann, dem Historiker Timothy Snyder, die USA und die Universität Yale, an der Sie Europäische Geschichte lehren, zu verlassen. Warum?
Es war eine schwierige, vielschichtige Familienentscheidung – und es hat lange gedauert: Die Munk School for Global Affairs an der Universität Toronto hat mich und meinen Mann schon vor fast drei Jahren angesprochen, und es gab viele gute Gründe, auch ungeachtet der aktuellen Politik, das Angebot anzunehmen. Ich habe es geliebt, in Yale zu unterrichten; es war ein Privileg. Aber Toronto ist eine wunderbare Stadt mit guten Schulmöglichkeiten für unsere Kinder. Außerdem ist Munk in wissenschaftlicher Hinsicht ein besonders attraktiver Ort.
Dann haben Sie Ihre Entscheidung nicht aufgrund der politischen Situation getroffen?
Was in den USA passiert, macht mir Angst. Und ich habe Angst vor dem, was noch kommt. Die Waffengewalt bei uns hat mich schon immer geängstigt, das ist etwas, was Europäer oft nicht wirklich verstehen: die ständige Präsenz von Waffen und die alltägliche, sogar ganz unpolitische Gewalt. Die USA haben den höchsten Waffenbesitz pro Kopf in der Welt. Wenn man an einem Samstagabend zum Beispiel in New Haven einen medizinischen Notfall erlebt, muss man sehr lange in der Notaufnahme warten, weil sie überfüllt ist mit Menschen, die angeschossen wurden. Wir Amerikaner haben das normalisiert: ein Beispiel für die menschliche Fähigkeit, das Abnorme zu normalisieren. Wir sind daran gewöhnt. Jetzt habe ich dazu noch Angst vor politischer Gewalt. Man kann das Potential für politische Gewalt stimmungsmäßig schon sehr genau spüren. Wir sind kein Rechtsstaat mehr. Die Regierung agiert rein willkürlich, und sie gehen davon aus, dass ihnen alles erlaubt ist.
Könnten Sie zurück nach Yale?
Das weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Wie hat die Universität auf diesen Schritt reagiert? Auch Ihr Kollege Jason Stanley hat Yale verlassen und geht wie Sie nach Kanada.
Sehr großzügig. Die Dekane haben versucht, uns zum Bleiben zu bewegen. Ich habe das sehr geschätzt. Die Vorsitzende unserer Abteilung hat mir sehr menschlich gesagt, dass sie sehr bedauert, dass wir Yale verlassen, aber sie versteht auch ganz klar, was bei uns passiert, sie hat keine Illusionen. Ich möchte, dass meine Kinder sich irgendwo anders befinden in diesen Jahren. Ich bin nicht der Überzeugung, dass Yale oder andere amerikanische Universitäten ihre Studenten und Lehrkräfte schützen könnten oder würden. In Januar schrieb J. D. Vance auf X, dass Timothy Snyder, mein Mann, eine Schande für Yale sei.
Was passierte dann?
Die Uni schwieg. Weder die Verwaltung noch unsere Kollegen an der juristischen Fakultät, die meiner Meinung nach eine besondere Verantwortung haben angesichts der Rolle, die die Yale Law School im Allgemeinen und „Tiger Mom“ Amy Chua im Besonderen in der Erfindung von J. D. Vance gespielt haben – sie war seine Professorin –, haben Tim öffentlich verteidigt.
Warum gibt es auch an anderen US-Universitäten so wenig Widerstand gegen Trumps Einmischungen?
Es gibt Widerstand, aber Sie haben recht: nicht genug und weniger, als man erwarten könnte. In einem öffentlichen Brief schrieb der Harvard-Präsident Alan Garber: „Aber wir sind nicht perfekt. Antisemitismus ist ein wichtiges Problem, das wir angehen müssen und auch weiterhin angehen werden. Als Institution und als Gemeinschaft erkennen wir unsere Unzulänglichkeiten an, streben nach notwendigen Veränderungen und bauen stärkere Bindungen auf, die es allen ermöglichen, sich zu entfalten.“ Einerseits stimmt es natürlich, dass niemand perfekt ist. Andererseits ist das fast die Sprache der stalinistischen Selbstkritik, was ein sehr düsteres Zeichen ist. Die Unis, besonders die Verwaltung und Führung, haben Angst.
Sie sprachen in Interviews von einem drohenden Bürgerkrieg in den USA. Welches Szenario haben Sie da genau vor Augen?
Verschiedene Szenarien, manche organisiert oder provoziert, andere spontan. Wir sind ein Land, in dem sehr, sehr viele Menschen bewaffnet sind. Und wir kennen das Prinzip von Tschechows Waffe . . .
Sie meinen, wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert?
Ja, wir haben fast schon vergessen, was am 6. Januar 2021 im Kapitol in Washington passiert ist. Es gibt immer mehr Gewalt im politischen Diskurs. Vor drei Jahren, nach der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine, gab ich ein Briefing für eine Kongressabgeordnete und ihre Mitarbeiter. Ich habe versucht, die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine zu erklären. Ich habe spontan eine Analogie verwendet: „Stellen Sie sich vor“, habe ich ihnen gesagt, „dass der 6. Januar anders verlaufen wäre und wir jetzt in einer Trump’schen Diktatur leben würden. Und stellen Sie sich vor, dass Trump im Interesse von ‚Making America Great Again‘ beschlossen hätte, die amerikanische Armee über die Grenze zu schicken, um in Kanada einzumarschieren. Stellen Sie sich vor, wir Amerikaner würden anfangen, Toronto zu bombardieren und Kinder unter Trümmern zu begraben. Würde jetzt jemand sagen, na ja, warum sollte das die Kanadier stören? Okay, Kanada ist ein zweisprachiges Land, aber im Grunde sprechen alle Englisch, genau wie die Amerikaner, und sie essen Hamburger und Pommes frites, genau wie die Amerikaner, also sind sie im Grunde die gleichen Leute.“ Es ging mir natürlich darum, klarzustellen, dass keine sprachliche und kulturelle Affinität in irgendeiner Weise eine Invasion und ein Massenschlachten rechtfertigen könnte. Und damals – vor nur drei Jahren – war diese Analogie effektiv, weil der Gedanke, dass die USA Kanada angreifen würden, völlig unvorstellbar war. Und jetzt . . .
Ihr Kollege Jason Stanley spricht in Bezug auf die Trump-Regierung von Faschismus. Sie auch?
Es ist wichtig, Kategorien nicht zu fetischisieren. Die Kategorien, die wir verwenden – Faschismus, Autoritarismus, Totalitarismus, Konzentrationslager, Völkermord und so weiter –, sind heuristische Instrumente, die es uns ermöglichen, unterschiedliche historische Momente zu vergleichen. Nichts ist jemals genau dasselbe wie etwas anderes. Diese Begriffe sind hermeneutische Mittel, die uns helfen, zwischen dem Singulären und dem Universellen zu vermitteln. Sie helfen uns, zu denken – inmitten der unreduzierbaren Einzigartigkeit des Lebens. Ich würde hier zu Kant zurückkehren: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“
An welchem Punkt kippt extremer Autoritarismus in Faschismus?
Im Fall von Trump muss man bestimmte klassische, sehr deutliche Merkmale des Faschismus feststellen – wie Jason Stanley beschreibt: die Mythologisierung der Vergangenheit, die Naturalisierung von Hierarchien, Opferkulte, unsichere Männlichkeit, Sozialdarwinismus. Und die Rhetorik von „Wir gegen sie“.
Der Faschismusbegriff taugt nicht, um Putins Herrschaft von Trumps Herrschaft zu unterscheiden. Beide sind irgendwie faschistisch, aber dennoch völlig unterschiedlich.
Wenn es um diese Begriffe geht, ist es für mich als Historikerin von Ideengeschichte wichtig, den Unterschied zwischen den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und den postmodernen, „Post-Wahrheit“-Versionen in Russland und den USA anzuschauen. In diesem Kontext ist die Unterscheidung zwischen den absolutistischen Wahrheitsansprüchen des Nationalsozialismus oder des Stalinismus und der postmoderne Bruch mit dem Anspruch im Trumpismus oder Putinismus, nicht durch die empirische Realität eingeschränkt zu sein, wichtig.
Ist das postpolitisch?
Wir sehen, dass Putin viel effektiver im Demobilisieren als im Mobilisieren ist. „Politik interessiert mich nicht“ ist die gängige Antwort russischer Bürger auf Fragen zum russischen Massenmord in der Ukraine. In einem Essay von 1967 beschrieb Hannah Arendt die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts als nahtlose Rekonstruktionen der Realität. Sie boten eine große Erzählung an, eine Geschichte, die zwar falsch sein mochte, aber dennoch ihren eigenen narrativen Spannungsbogen besaß. Sie hielten einen transzendentalen Schlüssel zu unserer Geschichte und unseren Leben bereit und machten diese zu einem fugenlosen und kohärenten Ganzen.
Trotz der Allmachtsphantasien und Großreichideen geht es nicht mehr um eine große Erzählung?
Die postmoderne Welt beginnt dort, wo wir von der epistemischen zur ontologischen Ungewissheit übergehen. Dies ist der Moment, in dem wir den Glauben daran aufgeben, dass es so etwas wie eine stabile Realität als Grundlage oder Zentrum der menschengemachten Narrative gibt. Jetzt gibt es sogar nicht einmal den Anschein einer zusammenhängenden, kohärenten Erzählung. Trump ändert seine Geschichte, Meinungen und so weiter jeden Tag. Putin hat einmal gesagt, dass seine „spezielle Militäroperation“ den Zweck hat, die „Volksrepublik Luhansk“ und die „Volksrepublik Donezk“ zu verteidigen. Dann hat er gesagt, dass es darum gehe, die Ukraine zu entnazifizieren. Ein bisschen später ging es darum, einen Präventivschlag gegen die NATO zu machen (weil die NATO angeblich einen Angriff auf Russland vorbereitete), noch ein bisschen später wird die Invasion eine „spezielle Militäroperation“, um die Ländereien Peters des Großen wiederherzustellen – und dann haben wir aus den russischen Staatsmedien gehört, dass es kein Naziregime, sondern ein buchstäblich satanistisches Regime in Kiew gibt. Sie debattierten sogar darüber, ob Selenskyj der Antichrist selbst oder nur ein Dämon im Dienste des Antichristen sei.
Trumps Agenda ist in vielerlei Hinsicht, vor allem was seinen Protektionismus betrifft, nicht mehr neoliberal. Verschiedene Begriffe versuchen, diese neue Regierungsform zu fassen. Muss man sich vielleicht schlicht auf einen Mafiastaat einstellen, in dem nur noch das Recht des Stärkeren herrschen wird?
Ich bin überhaupt keine Expertin für Wirtschaft, aber meine Intuition sagt Ja: Es geht um einen Mafiastaat. Stellen Sie sich vor, dass Sie die reichste Person der Welt sind. Sie könnten all die hungernden Kinder ernähren. Oder Sie könnten völlig mit sich selbst beschäftigt sein und Ihre Tage damit verbringen, am Strand zu liegen, Cocktails zu trinken und Kaviar zu essen, und gar nichts für andere Leute tun. Oder Sie könnten an die Macht kommen und absichtlich und aktiv das Essen von hungernden Kindern wegnehmen. Wir haben es jetzt mit einer besonderen Art von Grausamkeit zu tun.
Für Sie als Historikerin muss es gleichermaßen interessant wie schockierend sein, zu sehen, wie Trump nun versucht, die Zukunft zu kontrollieren, indem er die Vergangenheit kontrolliert. Per Dekret möchte er Einfluss auf die Geschichtsschreibung nehmen. Was geht da in Ihnen vor?
Das ist keine Überraschung. Es geht vor allem um die Vermeidung von Verantwortung und Verantwortlichkeit. Wir haben das schon oft in der Geschichte gesehen. In Polen hat, als sie an der Regierung war, Prawo i Sprawiedliwość, also die PiS-Partei, versucht, etwas sehr Ähnliches mit der Geschichtspolitik zu machen. Die USA sind ein Land, das auf Sklaverei aufgebaut ist. Während des Zweiten Weltkrieges haben wir rassisch getrennte amerikanische Truppen nach Europa geschickt, um gegen die Nazis zu kämpfen. Wir hatten bis 1967 Gesetze gegen Rassenmischung – also 22 Jahre nach der Niederlage der Nazis. Meine wunderbare Schwägerin, die Frau meines jüngsten Bruders, ist Afroamerikanerin. Sie hatten eine wunderschöne Hochzeit, unsere ganze Familie war da. Und als ich später meinen Kindern erzählte, dass die Ehe ihrer Tante und ihres Onkels noch fünf Jahre vor meiner Geburt illegal gewesen wäre, war es schwer für sie, das zu glauben. Wir werden als Gesellschaft nie vorankommen, wenn wir dieser Vergangenheit nicht ins Auge blicken.
Geht es um Schuld?
Es geht nicht um Schuld, es geht um Verantwortung.
Diese Unterscheidung ist nicht unwesentlich. Schuld behindert meist Entwicklung.
Ich fühle mich nicht schuldig für die Sklaverei, ich fühle mich verantwortlich für die Wahrheit, um die Wahrheit zu sehen und zu sagen. Und ich fühle mich verantwortlich für die Auseinandersetzung mit den Folgen dieser Vergangenheit, die bis heute andauern. Verantwortung bedeutet, der Wahrheit der Vergangenheit in die Augen zu schauen.
Die Smithsonian Institution, einst zur „Verbreitung von Wissen“ gegründet, sei „in den letzten Jahren unter den Einfluss einer spaltenden, auf Ethnie ausgerichteten Ideologie geraten“, behauptet Trump. Das National Museum of African American History ist ihm ein besonderer Dorn im Auge. Gibt es irgendwelche nennenswerten gemeinsamen Initiativen von Historikern, diesen Geschichtsrevisionismus aufzuhalten? „Das ist ein Feuer der fünften Alarmstufe für die öffentliche Geschichte, Wissenschaft und Bildung in Amerika“, sagte der Historiker Samuel Redman kürzlich.
Samuel Redman hat recht. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keinen Widerstand gäbe. Die Kongressabgeordnete Jasmine Crockett zum Beispiel spricht ständig furchtlos, und was Cory Booker gerade gemacht hat, als er aus Protest mehr als 25 Stunden ohne Pause im Senat gegen die Trump-Regierung gesprochen hat, ist heroisch. Während dieser Rede sagte er: „Ich will keine Disneyfizierung unserer Geschichte. Ich will die Geschichte nicht beschönigen. Ich will keine Homogenisierung der Geschichte. Erzählen Sie mir die unglückliche Wahrheit über Amerika, denn das spricht für unsere Größe.“ Und mein Kollege in Yale, der Historiker David Blight, schrieb gerade in der „New York Times“: „Große Lügen verbreiten sich wie Viren in der Kultur, und obwohl wir Beweise, Fakten und Ethik auf unserer Seite haben, gibt es keine Impfstoffe. Die grobe Absicht dieser Anordnung ist es, Institutionen weiter zu zerstören und Historiker zum Schweigen zu bringen.“
Sie kennen die Ukraine und Osteuropa sehr gut. Glauben Sie, Trump hat einen Plan, oder will er die Ukraine einfach vom Tisch haben?
Ich erzähle allen meinen ukrainischen Freunden und Kollegen: Vertraut uns nicht! Die Leute an der Macht bei uns haben keine Grundprinzipien, keine echte Idee. Trump ist ein moralischer Nihilist. Für ihn existieren Wahrheit und Lüge, Gut und Böse nicht, es gibt nur das, was für ihn in einen bestimmten Moment vorteilhaft oder unvorteilhaft ist. Andere Menschen um ihn herum – zum Beispiel Marco Rubio, Lindsey Graham oder Tucker Carlson – haben ihre Seelen dem Teufel verkauft.
Was bedeutet das für Europa?
Die Europäer müssen verstehen: Das ist das Ende der Affäre. Amerika geht unter. Lasst euch nicht von uns mit in den Abgrund ziehen. Ihr müsst euch mobilisieren. Das Schicksal der Welt – ganz buchstäblich – hängt davon ab.