Wednesday, January 3, 2024

Voller Wartesaal der EU: Verliert Europa an Boden?

Tagesspiegel Voller Wartesaal der EU: Verliert Europa an Boden? Artikel von Salim Çevik, Sophie Pornschlegel, Dušan Reljić • 14 Std. Dass Beitrittskandidatenländer Jahrzehnte darauf warten müssen, Mitglied der EU zu werden, ist inzwischen üblich. Zugleich wird immer fraglicher, ob Versprechen und Vertrösten eine kluge Strategie des Clubs Europa ist. Für sich selbst und die frustrierten Kandidatinnen. Auf ewig warten? Europaflaggen vor dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel Die Staaten des sogenannten Westbalkans warten seit zwei Jahrzehnten, die Türkei sogar seit mehr als sechs. Und nun hat die EU auch der Ukraine die Mitgliedschaft versprochen, unklar für wann. Für den Beitritt braucht es Voraussetzungen Dass so viele Länder der EU beitreten wollen, beweist, dass die EU durchaus ein attraktiver Club bleibt – sie bietet Wohlstand und Frieden in einer volatilen Weltordnung. Diese Attraktivität besteht aber nur, weil es klare Regeln gibt: Wer beitreten möchte, muss demokratische Standards einhalten, eine funktionierende Wirtschaft vorweisen und ein souveräner Staat sein. Diese Kriterien sind nicht einfach zu erfüllen und führen dazu, dass einige Kandidaten schon seit Jahren auf einen Beitritt warten. Einige Länder, wie die Türkei oder Serbien, haben sich seitdem willentlich von diesen EU-Standards entfernt. Aus geopolitischer Perspektive ist es wichtig, den Kandidaten eine schnelle Aussicht auf Mitgliedschaft zu geben. Damit wird verhindert, dass bspw. Russland oder China ihre Macht an Europas Grenzen ausbauen. Doch eine Erweiterung birgt auch Risiken: Hätten wir Ungarn in die EU gelassen, wenn wir gewusst hätten, dass Orbán keine zehn Jahre nach dem EU-Beitritt das Land in eine Autokratie umwandelt? Modernisieren, dann beitreten, das funktioniert nicht mehr Das vom Westen vorgeschriebene Modell der Modernisierung der Länder Südosteuropas mit dem Ziel des EU-Beitritts hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Die Region transferiert derzeit erheblichen Wohlstand nach Westeuropa, anstatt ihre Entwicklung zu beschleunigen: über Handelsdefizite, die Rückzahlung von Krediten und die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte. Der Verlust von Humankapital durch Auswanderung in die EU ist dabei der wichtigste Faktor. Die EU-Mitgliedstaaten profitieren von diesem Transfer, der ihren Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt stärkt und hilft, ihren hohen Lebensstandard zu erhalten. Selbst wenn die EU ihre jüngsten Versprechungen aus dem im November 2023 angekündigten Wachstumsplan für den „westlichen Balkan“ erfüllt, werden dessen Staaten immer noch sechs- bis achtmal weniger Entwicklungshilfe erhalten als die EU-Mitglieder der Region. Beim derzeitigen Wachstumsniveau wäre ihre Wirtschaftsleistung damit erst im Jahr 2076 so hoch wie der EU-Durchschnitt. Ohne aber die Lebensbedingungen zu verbessern, wird es kaum möglich sein, Korruption und Rechtspopulismus zurückzudrängen. Nach der EU-Euphorie in die Abwärtsspirale Die Türkei, seit 1959 die älteste Insassin im EU-Wartesaal, wurde 2005 offiziell Beitrittskandidatin, damals mit einer florierenden Wirtschaft und politischen Reformen, die von dem Wunsch nach dem EU-Beitritt angetrieben wurden. Nach anfänglichem Enthusiasmus zögerten die EU-Staats- und Regierungschefs, allen voran Sarkozy und später Merkel, und schlugen eine privilegierte Partnerschaft statt einer vollständigen Integration vor. Um die Jahrtausendwende war bereits deutlich geworden, dass die EU nicht bereit war, die Türkei als Vollmitglied aufzunehmen. Die Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft in der Türkei ließ allmählich nach. In der Folge geriet die politische Geschichte der Türkei in eine Abwärtsspirale, die in den folgenden zehn Jahren durch den weltweit größten Demokratieabbau gekennzeichnet war. Auch wenn dies nicht allein auf die veränderte Haltung der EU zurückzuführen ist: Eine andere Haltung Europas hätte die Entwicklung der Türkei beeinflussen können.