Friday, January 5, 2024

„Sollte nicht verwundern, wenn der Wahlkampf etwas infantiler als sonst wird“

WELT „Sollte nicht verwundern, wenn der Wahlkampf etwas infantiler als sonst wird“ Artikel von Nicolas Walter • 1 Std. Bei der Europawahl könnte es zu einem deutlichen Rechtsruck kommen. Und das, obwohl die Wähler von Parteien aus diesem Spektrum „gar nicht so sehr“ entsprechend eingestellt seien, erklärt Politikwissenschaftler Thomas König. Auf die Ampel sieht er im Wahlkampf noch schwierigere Zeiten zukommen. Vom 6. bis 9. Juni findet in diesem Jahr die Wahl des Europäischen Parlaments statt WELT: Herr König, wie schätzen Sie die Bedeutung der diesjährigen Europawahl ein? Thomas König: Aus deutscher Sicht kann man im Grunde von einer doppelten Bedeutung sprechen. Einerseits wird es ganz klassisch darum gehen, wer Kommissionspräsident wird, welche Parteien erfolgreich abschneiden werden und welche Fraktionen eine Mehrheit bilden können. Andererseits wird in Deutschland mit Spannung das Ergebnis der neuen Partei von Sahra Wagenknecht erwartet werden. Als Debüt die Europawahl zu wählen, ist durchaus geschickt – auch weil es keine Fünf-Prozent-Hürde für das Europaparlament gibt. Ein Erfolg der Partei würde mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihrer Profilierung führen und für den nötigen Rückenwind im Hinblick auf die Landtagswahlen im Herbst in Ostdeutschland sorgen. WELT: Die Wahlbeteiligung an Europawahlen war in den vergangenen Jahren verhältnismäßig gering. Dabei werden auf EU-Ebene wichtige Entscheidungen getroffen. König: Die geringe Wahlbeteiligung ist vor allem vor dem Hintergrund widersprüchlich, dass über die Jahre immer mehr Kompetenzen nach Europa verlagert wurden. Von ursprünglich über 60 Prozent ist sie sogar 2014 bis auf rund 43 Prozent gesunken, 2019 gab es immerhin wieder einen Anstieg auf ungefähr 50 Prozent. Für die Wähler wichtige Themen, über die die EU entscheidet und die schon derzeit sehr präsent sind, sind vor allem Migration, Schulden in der Euro-Zone, Klimaschutz wie etwa den Green Deal und die Diskussion um eine Mitgliedererweiterung beispielsweise um die Ukraine oder die Balkanstaaten. WELT: Bei geringem Interesse an einer Wahl ist die Zahl der Nicht-Wähler entsprechend hoch. Könnten die am Ende entscheidend sein, wenn es um einen möglichen Rechtsruck Europas geht? König: Nichtwähler spielen eine Rolle für den Erfolg von populistischen Parteien, die sehr gut mobilisieren können. Dazu zählen rechte Parteien wie beispielsweise die AfD. Allerdings sagen unsere Forschungsresultate, dass rechte Parteien von einer sehr diffusen Wählerschaft profitieren. Also gar nicht so sehr von rechten Einstellungen ihrer Wähler. Es geht oftmals vielmehr um die Unzufriedenheit mit der Regierung, die zur Wahl rechter Parteien führt. Für viele ist die Identifikation mit einer Gruppe, die aus welchen Gründen auch immer sehr unzufrieden mit der Regierung ist, entscheidend für die Wahl einer rechten Partei. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten wie beispielsweise Frankreich oder Italien. Die Unzufriedenheit ist gepaart mit dem Wunsch, kulturell und wirtschaftlich wieder vergangene Zeiten aufleben zu lassen und mehr Kompetenzen auf nationaler Ebene zu vereinigen. Im Vergleich dazu spielen extremistische, rechtspopulistische Ansichten eine untergeordnete Rolle. WELT: Was empfehlen Sie der Ampel-Regierung, wenn sie einen Rechtsruck in Deutschland bei der Europawahl verhindern möchte? König: Signale der Unzufriedenheit über die Ampel-Regierung wurden in den vergangenen Monaten von innen, also von den Parteien der Regierung gesendet. Selbst der uninformierteste Wähler kann aus dem Parteienstreit innerhalb der Regierung schlussfolgern, dass es nicht gut läuft. Beispielsweise ist das viel umstrittene Heizungsgesetz einerseits so umfangreich, dass selbst Juristen Tage brauchen, um die Inhalte zu verstehen. Andererseits sendeten mehrere Regierungsparteien immer wieder das Signal, dass das Heizungsgesetz Mist sei, sodass selbst der uninformierteste Wähler geschlussfolgert hat, dass die Regierung ihre Aufgaben nicht effektiv erledigt. Wo das enden kann, zeigt das prominente Brexit-Beispiel. Damals war der Parteienstreit über die neuen Bedingungen der britischen EU-Mitgliedschaft, die der frisch gewählte britische Premierminister David Cameron ausgehandelt hatte, so groß, dass sich am Ende die Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU entschied. Mit anderen Worten sind die negativen Signale, die aus einer Regierung kommen, entscheidend für das Misstrauen der Wähler gegenüber der Regierungsarbeit. Selbstverständlich sind Diskussionen und Streit notwendig, um in einer Mehrparteiendemokratie für die Regierungsarbeit die beste, meistens eine Kompromisslösung zu finden. Aber diese Art des Parteienstreits über eine gefundene Kompromisslösung sollte nicht den Eindruck vermitteln, dass es am Ende ein „fauler“ Kompromiss für den Wähler ist. Schließlich erwartet der Wähler eine effektive Regierungsarbeit. Für die Ampel-Regierung dürfte es aber nicht einfacher werden, da normalerweise der Parteienstreit innerhalb einer Regierung eher zu- als abnimmt je näher der Wahltermin rückt. Auch wenn die Umfragen anders lauten, sollte sich die Ampel-Regierung vor diesem Hintergrund überlegen, schon bald eine längere Zusammenarbeit zu verabreden. WELT: Welche Folgen würde ein Rechtsruck für die EU haben? König: Im Gegensatz zur viel beschworenen Polarisierungsgefahr europäischer Gesellschaften deuten unsere Forschungsergebnisse darauf hin, dass es zu keiner rechten Mehrheit im Europaparlament kommen wird. Wahrscheinlich werden die rechten Parteien ihren Stimmenanteil erhöhen können, und es wird ein bisschen hitziger werden. Doch die Mehrheit aus EVP, Sozialdemokraten, Liberalen und mittlerweile auch den Grünen ist proeuropäisch orientiert und wird deshalb den proeuropäischen Kurs der Europäischen Kommission unterstützen. Von daher dürfte selbst ein Rechtsruck bei den Europawahlen wenig Auswirkungen auf die EU haben. WELT: Erstmals dürfen bei der Europawahl Menschen ab 16 Jahren wählen. Gibt es eine Tendenz, ob junge Menschen einen Zulauf für rechte Parteien bedeuten könnten? König: In einer Studie, in der wir das Wahlverhalten von Jungwählern bei den Europawahlen 2014 und 2019 untersucht haben, konnten wir feststellen, dass sich Erstwähler im Durchschnitt nicht anders entscheiden als ältere Wähler. Interessant ist aber, dass die Wähler, die zum zweiten Mal an einer Europawahl teilgenommen hatten, eher rechts wählten. Das kann damit begründet werden, dass in der Legislaturperiode von 2014 bis 2019 auf europäischer Ebene von EVP, Sozialdemokraten, Liberalen und den Grünen zu wenig unternommen wurde, um die Krisen der damaligen Zeit, allen voran die Migrationskrise, zu lösen. Das scheint die jungen Wähler in zweiter Instanz frustriert zu haben. WELT: Merken Sie bereits, dass Parteien versuchen, insbesondere die jungen Wähler von sich zu überzeugen? König: Natürlich, allein schon das Absenken des Wahlalters auf 16 veranlasst die Parteien beispielsweise dazu, vermehrt auf TikTok zu werben. Wir konnten bei verschiedenen Wahlen in der Vergangenheit auch feststellen, dass eine Absenkung des Wahlalters mit einer Art Vereinfachung des Wahlkampfs einhergeht. Das ist auch jetzt bei der Europawahl zu erwarten. Es sollte also nicht verwundern, wenn der Wahlkampf etwas infantiler als sonst sein wird. Ich gehe zumindest nicht davon aus, dass es einen größeren politischen Tiefgang geben wird.