Monday, January 8, 2024

Russlands „andere Moderne“

Frankfurter Allgemeine Zeitung Russlands „andere Moderne“ Artikel von Ulrich Schmid • 11 Std. Die Eiszeit zwischen dem Westen und Russland wird oft so erklärt: Putin wolle zurück zu sowjetischen Zuständen und strebe eine vollständige Isolation Russlands an. Die Berliner Soziologin Katharina Bluhm widerspricht solch verkürzten Behauptungen. In ihrem klugen und gut dokumentierten Buch zeigt sie, wie die illiberal-konservative Bewegung in Russland eine multipolare Weltordnung fordert und sich eklektisch bei westlichen Ideologien bedient. Putin tritt bei Bluhm nicht als absoluter Alleinherrscher auf, sondern als Moderator verschiedener Interessengruppen innerhalb eines Machtkartells. Um die aktuelle Erstarrung des politischen Systems in Russland zu erklären, greift Bluhm weit in die Vergangenheit aus und analysiert die Flügelkämpfe der Neunzigerjahre. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war das Ziel der russischen Wirtschaftspolitik für alle klar: Man wollte eine leistungsfähige Marktwirtschaft. Allerdings gab es keinen Konsens über den Weg dahin. Die Reformkommunisten bevorzugten einen langsamen, staatlich gelenkten Übergang, während die Liberalen eine Schocktherapie wollten. Unter Präsident Jelzin gewannen die Westler die Oberhand. Dabei ließen sich führende Wirtschaftsexperten auch von undemokratischen Vorbildern inspirieren, etwa Pinochets Modernisierungsdiktatur in Chile. Kritisch sieht Bluhm auch die Beratertätigkeit der sogenannten „Harvard Boys“. Jeffrey Sachs hatte sich in den Neunzigerjahren eine einzigartige Machtposition aufgebaut: Er beriet sowohl die amerikanischen Geldgeber als auch das russische Reformteam, das die US-Hilfe erhielt. Russlands „andere Moderne“ Jelzins Wirtschaftsminister Jegor Gajdar folgte bei seinen Maßnahmen im Wesentlichen dem „Washington Consensus“: Liberalisierung des Außenhandels, Privatisierung des Staatseigentums und Deregulierung des Binnenmarktes. Im Dezember 1991 erhielt er vom Kongress der Volksdeputierten mit 876 zu 16 Stimmen eine erstaunlich deutliche Unterstützung für dieses Programm. Im Rückblick rechtfertigte Jelzin den schmerzhaften Übergang mit einer drastischen Metapher. Die Schocktherapie sei eine „Notoperation ohne Narkose“ gewesen. Man habe die stalinistische Planwirtschaft, die auf Zwangsmaßnahmen beruhte, nur gewaltsam beenden können. Der radikale Eingriff führte allerdings nicht zu den gewünschten Resultaten. Die wilden Neunzigerjahre gingen als Raubtierkapitalismus in die russische Geschichte ein. Gewinne wurden privatisiert, Verluste verstaatlicht. 1998 kam es zum Staatsbankrott, der Rubel wurde um 60 Prozent abgewertet. Der damalige Weltbankchef Joseph Stiglitz monierte im Rückblick, dass man die demokratischen Institutionen vor den Wirtschaftsreformen hätte entwickeln müssen. So aber häuften wenige Akteure märchenhafte Reichtümer an. Allerdings gelang es den Oligarchen nie, die politische Kontrolle über den Staat zu erringen. Das war die Voraussetzung für die enorme Machtposition, die sich Putin seit dem Jahr 2000 aufbaute. „Schutz der historischen Wahrheit“ Nach den katastrophalen Erfahrungen mit der Marktwirtschaft formierte sich in Russland schon bald eine konservative Gegenbewegung. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Verwerfungen machte sich vielerorts die Überzeugung breit, dass die Normen des Westens für Russland nicht nur ungültig, sondern sogar schädlich seien. Einige russische Intellektuelle flüchteten sich in den Eurasismus. Aus der Sicht dieser Ideologie gehen sowohl europäische als auch asiatische Elemente in die russische Kultur ein. Die dreihundertjährige Mongolenherrschaft wird nicht als Nachteil, sondern als Gewinn gesehen: In dieser Verbindung sei Russland zu einem geopolitischen Imperium geworden. Deshalb müsse die „einzigartige russische Zivilisation“ dem materiellen Gewinnstreben, der atomisierten Gesellschaft und dem egoistischen Liberalismus des Westens entgegentreten. Andere Denker bekannten sich zu einem radikalen Nationalismus. Kon­stantin Krylow forderte eine „Wiedervereinigung des russischen Volkes“, das nach dem Ende der Sowjetunion auch im Ausland (Ukraine, Belarus, Kasachstan) leben müsse. Michail Remisow stellte in der Nachfolge von Carl Schmitt die „absolute Souveränität“ Russlands ins Zen­trum seines politischen Programms. In eine ähnliche Richtung bewegte sich die orthodoxe Kirche, die ihre eigene Sozialdoktrin deutlich vom westlichen Bekenntnis zu den Menschenrechten abhob. Im Umkreis des Moskauer Patriarchen entstand ein ganzes Netzwerk ultrakonservativer Clubs, Bruderschaften und Medienprojekte. Opposition in Russland nutzt getarnte Wahlplakate Seit 2012 kann der Konservatismus als inoffizielle politische Staatsdoktrin Russlands gelten. Zwar verbietet Artikel 13 der russischen Verfassung eine Staatsideologie, aber mit dem 2020 eingeführten Verfassungsartikel 67.1 wird der Staat auch explizit auf konservative Werte wie den „Schutz der historischen Wahrheit“ und die „Erziehung zum Pa­triotismus“ verpflichtet. Der russische Konservatismus bedeutet allerdings nicht die Verweigerung von Innovationen. Im Gegenteil fordern staatsnahe Vordenker eine „andere Moderne“, die sich von der Entwicklung im Westen unterscheiden soll. Russland wird als Hoffnungsort der Zukunft präsentiert, in dem die schädliche Trennung von Aufklärung und Religion nicht stattgefunden habe. Die russische Gesellschaft soll auf traditionelle Werte verpflichtet werden, die zwar aus der Religion stammen, aber nicht mehr in einem Kultus zelebriert werden. Diese Stoßrichtung wirkte auch auf amerikanische Konservative attraktiv. Der Fox-News-Mitgründer Jack Hanick zog 2012 mit seiner Familie nach Moskau und konvertierte zum orthodoxen Glauben. Dort half er dem bigotten Oligarchen Konstantin Malofejew beim Aufbau des religiösen Internetkanals „Zargrad“. Als eine Art Internationale des Konservatismus positionierte sich schließlich der World Congress of Families, der sich begeistert über die Politik des Kremls etwa gegen die LGBTQ-Bewegung äußerte. Katharina Bluhm beurteilt die Nachhaltigkeit des russischen Staatsmodells skeptisch. Zwar spülen die Erträge aus dem Öl- und Gasgeschäft auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine immer noch zuverlässig enorme Summen in die Staatskasse. Bereits zu Beginn der Ära Putin hatte der Finanzminister Alexej Kudrin allerdings erkannt, wie gefährlich der Staatskapitalismus für die Privatwirtschaft sein kann. Die Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft können durch die unkontrollierte Erhöhung der Geldmenge zum Inflationstreiber werden. Außerdem schwächt der Ressourcenfluch den Reformdruck für eine Regierung, die ihre sozialpolitischen Verpflichtungen mit Petrodollars abgelten kann. Kudrin legte einen Staatsfonds an, der dem Wirtschaftskreislauf die überschüssige Geldmenge entziehen sollte. Außerdem wurde eine staatliche Entwicklungsbank eingerichtet, die Investitionen erleichtern sollte. Der Staatskapitalismus gipfelte damals in den „nationalen Projekten“, die Verbesserungen in der Landwirtschaft, der Gesundheit, der Bildung und im Wohnungsbau erreichen sollten. Die private Beteiligung an Investitionen bleibt jedoch nach wie vor schwach. Die Zentralbank weist darauf hin, dass die Hälfte der Kapitalisierung an der Moskauer Börse auf Firmen mit Staatsbeteiligung beruhe. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die wirtschaftliche Schieflage noch einmal verschärft. Massenflucht und Mobilisierungen haben zwar die Arbeitslosigkeit auf einen Tiefstand sinken lassen. Gleichzeitig betreibt der Staat aber „militärischen Keynesianismus“ – die scheinbar positiven Wirtschaftsdaten sind nicht zuletzt auf die überhitzte Rüstungsindustrie zurückzuführen, und der Staatsfonds wurde für den ruinösen Krieg geplündert.