Monday, January 8, 2024
Russische Kirche: Das Christentum soll grausam sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Russische Kirche: Das Christentum soll grausam sein
Artikel von Kerstin Holm •
1 Std.
Religion der Barmherzigkeit: Priester Alexej Uminski (links) und der Journalist und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow bei der Trauerfeier für Michail Gorbatschow.
Vor dem orthodoxen Weihnachtsfest hat die russisch-orthodoxe Kirche zwei liberale Moskauer Priester abgesetzt. Schon kurz vor Neujahr wurde dem 75 Jahre alten Geistlichen Wladimir Lapschin die Leitung der Mariä-Entschlafungskirche im Stadtzentrum entzogen. Lapschin war einer der letzten geistlichen Kinder des charismatischen jüdischen Priesters Alexander Men, der während der Perestroika viele Dissidenten und Intellektuelle dem Christentum zuführte, für Offenheit gegenüber anderen Konfessionen und Religionen eintrat und 1990 ermordet wurde.
Lapschin hatte im November die Totenmesse für einen anderen aufgeschlossenen Geistlichen, Iwan Swiridow, geleitet, der in den Neunzigerjahren in Moskau den christlichen Radiosender „Sophia“ mitbegründete, der für einen Dialog der Konfessionen, insbesondere zwischen Orthodoxen und Katholiken, eintrat. Allein dafür habe der Verstorbene das Himmelreich verdient, sagte Vater Wladimir bei seiner Predigt. Lapschin erklärte, er sei aus Altersgründen in den Stand eines Ehrenpriesters seiner Gemeinde versetzt worden, dürfe aber weiter Gottesdienste feiern.
Am Wochenende wurde dann dem Priester Alexej Uminski nicht nur seine Dreifaltigkeitskirche an der Chochlowski-Gasse weggenommen, ihm wurde auch verboten, Gottesdienste abzuhalten. Der 63 Jahre alte Uminski hatte im November gegenüber dem früheren Chefredakteur des geschlossenen Radiosenders Echo Moskwy, Alexej Wenediktow, erklärt, keines am gegenwärtigen Krieg beteiligten Völker werde durch ihn besser, klüger oder edler. Der Priester empfahl Gläubigen, die keinem Gottesdienst bewohnen wollten, wo für die „militärische Spezialoperation“ und den Sieg gebetet werde, Geistliche zu suchen, die nicht den Kriegsgeist stärken wollten, sondern für Frieden beteten.
Keine „christliche Milde“ in Russland
Uminski hat wiederholt den Untertanengeist der orthodoxen Kirche kritisiert und sie ermuntert, Menschen gegen die Staatsmacht zu verteidigen. Vater Alexej trat für den inhaftierten Memorial-Historiker Juri Dmitrijew ein, er tadelte 2019 die Haftstrafen, die gegen Protestierende gegen Moskauer Wahlfälschungen verhängt wurden, und verlangte 2021 von den Behörden, „christliche Milde“ gegenüber dem inhaftierten Alexej Nawalnyj zu zeigen und einen Arzt zu ihm zu lassen. 2022 unterstützte Uminski ein Schreiben von Priestern gegen den Ukrainekrieg und besuchte den politischen Häftling Wladimir Kara-Mursa im Gefängnis. Im September 2022 hielt er die Totenmesse für Michail Gorbatschow.
Die Dreifaltigkeitskirche soll künftig von dem aus Lemberg gebürtigen Priester Andrej Tkatschow geleitet werden, der das religiöse Leben seiner ukrainischen Heimat wegen deren vermeintlichen Gottesvergessenheit schmäht und nach den Maidan-Protesten 2014 nach Moskau gezogen ist. Der 52 Jahre alte Tkatschow hat Gorbatschow als „traurige Figur“ ohne Glauben und Gebet bezeichnet und behauptet, die Totenmesse für ihn sei eigentlich keine gewesen, weil der Verschiedene nicht bereut habe. Für die Gemeinde an der Chochlowski-Gasse, deren Name sich von den Ukrainern herleitet, die traditionell hier siedelten, ist Tkatschows Ernennung eine Ohrfeige.
Uminski, der die Ukrainer schätzt, Flüchtlingen half und Friedensgottesdienste abhielt, wird ersetzt durch einen Geistlichen, dessen theologische Bildung als mangelhaft gilt, der aber dafür umso eifriger im orthodoxen Fernsehsender „Spas“ für den Ukrainekrieg wirbt und für ein dem Islam nahes, die göttlichen Gesetze bei Bedarf durch Grausamkeit durchsetzendes Christentum eintritt. Vater Andrej nannte den Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow einen wertvollen Teil der russischen Kultur und verlangte, die Ukraine weiter zu bombardieren – aber stets dabei zu beten.