Saturday, January 20, 2024
Ricardo Lange: Darum öffnen wir das Fenster, wenn jemand stirbt
Berliner Zeitung
Ricardo Lange: Darum öffnen wir das Fenster, wenn jemand stirbt
Artikel von Ricardo Lange •
5 Std.
Ein wallendes schwarzes Gewand, die Kapuze tief über den Schädel gezogen, die Sichel in der knöchernen Hand – wenn man dem Tod eine Gestalt geben müsste, wäre dieses wohl das Bild, das die meisten Menschen vor Augen hätten. Kein Wunder also, dass der Tod uns Angst macht. Dennoch wird er jeden von uns treffen, egal wie alt wir sind, von wem wir abstammen, welche Hautfarbe wir haben, ob wir reich oder arm sind, ob wir gute Menschen sind oder hinterhältige Kanaillen.
Doch das Sterben und der Tod sind für die meisten von uns immer noch Tabuthemen. Ich auf der Intensivstation und auch viele andere Kollegen erleben täglich, was für die meisten im Verborgenen bleibt.
Wenn bei uns auf der Intensivstation ein Patient gestorben ist, entfernen wir alle Zugänge und den Tubus mitsamt dem Beatmungsschlauch. Wir waschen den Verstorbenen ein letztes Mal, wechseln blutige und schmutzige Bettwäsche, ziehen ein frisches Nachthemd an, legen die Arme links und rechts neben den Körper und schließen noch geöffnete Augenlider. Wir öffnen das Fenster, einerseits um den leichten Geruch des Todes durch frische Luft zu vertreiben, andererseits in dem Glauben, dass die Seele so den Raum verlassen kann.
Oft ist es so, dass Angehörige während des Sterbeprozesses oder kurz danach zum Abschiednehmen kommen. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als durchgeblutete Verbände provisorisch mit der Bettdecke abzudecken und sichtbare Blutspuren notdürftig von der Haut zu wischen, um dem Anblick etwas von seiner Grausamkeit zu nehmen. Elektrische Kerzen werden an das Bett gestellt und Taschentücher bereitgelegt. Wir versuchen, den Abschied für die Angehörigen so würdevoll wie möglich zu gestalten.
Eine Sache wurde mir damals in meiner Einarbeitung ans Herz gelegt: „Stell immer das Patientenbett flach!“ Etwa ein bis zwei Stunden nach dem Tod tritt der Rigor mortis ein, die sogenannte Leichenstarre. Sie kann dazu führen, dass der Körper des Toten in der aufrechten Position verbleibt, wenn das Kopfteil des Bettes nicht heruntergeklappt wird. Dann aber würde der Tote später nicht mehr ins Kühlfach passen.
Ehrlich gesagt habe ich das bisher nie erlebt. Ich habe dazu extra Michael Tsokos gefragt, den Gerichtsmediziner der Charité. Er hat mir bestätigt, dass das für den Krankenalltag keine Rolle spielt. Die Leichenstarre macht sich zuerst an den Augenlidern und dem Unterkiefer bemerkbar und erreicht ihre volle Ausprägung nach sechs bis acht Stunden. Sinnvoll ist, den Kiefer so lange mit einer Handtuchrolle abzustützen, damit der Mund geschlossen bleibt.
Es kommt vor, dass die Kripo bei uns auftaucht und eine Leiche beschlagnahmt, und zwar dann, wenn der Arzt die Todesart als ungeklärt einstuft – zum Beispiel nach einem Treppensturz – und ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann. In diesem Fall dürfen wir am Zustand der Leiche nichts ändern: Alle Zugänge bleiben drin. Lediglich Infusions- und Beatmungsschläuche dürfen entfernt werden.
Zurück zum Alltag: Wenn die Angehörigen mit ihrer Trauer irgendwann nach Hause gehen, geht für uns der Umgang mit den Verstorbenen weiter. Der Arzt füllt den Totenschein aus und wir befestigen den sogenannten Zehenzettel mit den persönlichen Daten am Fuß des Verstorbenen. Der Tote wird entweder abgeholt, oder wir bringen ihn persönlich in die Leichenhalle, wo wir ihn dann in ein freies Kühlfach schieben.
Wer hier – wie ich früher – denkt, dass es für jeden Verstorbenen ein einzelnes, abgetrenntes Fach gibt, der irrt. Hinter den einzelnen Türen befindet sich ein großer gemeinsamer Kühlraum, in dem die Leichen nebeneinander liegen. Jedes Mal, wenn ich den Hebel einer Tür umlege und die Luke schließe, muss ich mit leichtem Schaudern daran denken, dass es in manchen Krankenhäusern an der Innenseite der Luke auch einen Hebel gibt, also dort, wo sich der Kühlraum mit den Leichen befindet. Ein Pfeil zeigt an, in welche Richtung man drehen muss, um die Luke zu öffnen. Wer diesen Hebel umlegen soll, frage ich mich bis heute – ich habe bisher noch keinen Toten wieder auferstehen sehen.
Eine Sache ist mir sehr wichtig: Ich versorge verstorbene Menschen immer so, als würden sie noch leben. Ich rede mit ihnen, lege Kopf und Gliedmaßen sanft zur Seite. Dieser Akt der Menschlichkeit hilft mir bis heute dabei, mit dem Tod umgehen und ihn besser verarbeiten zu können.