Saturday, January 20, 2024
„Deutschland braucht nur Kaffee“: Wie Christian Lindner in Davos die Bürger beleidigt
Berliner Zeitung
„Deutschland braucht nur Kaffee“: Wie Christian Lindner in Davos die Bürger beleidigt
Artikel von Liudmila Kotlyarova •
1 Std.
Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen, bedankt sich am 19. Januar 2024 bei Klaus Schwab, dem Gründer des Weltwirtschaftsforums WEF, nach der Abschlussveranstaltung des Forums in Davos.
Probleme des Landes richtig erkennen zu können ist für Politiker heutzutage schon eine Tugend. Für Minister müsste es hingegen ein Muss sein, denn wie kannst Du erfolgreich regieren, wenn Du nicht einsiehst, was Dein Volk bewegt, welche Sorgen es hat und welche tiefliegenden Gründe diese Sorgen haben?
Vom Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) dürfen wir schon erwarten, dass er diese Tugend hat. Dann tritt er aber auf dem Wirtschaftsforum in Davos auf und sagt: Deutschland sei nicht der kranke Mann Europas, „Deutschland braucht nur Kaffee“. Nur?
Die deutsche Wirtschaft habe sich im letzten Jahr trotz der Energiekrise als Folge des russischen Krieges gegen die Ukraine und einer leichten Rezession „widerstandsfähig gezeigt“, argumentierte Lindner. Das ist zwar nicht falsch, aber sehr oberflächlich gesehen – zudem schafft Lindner es, im Anschluss noch die eigenen Bürger zu beleidigen.
Was er weiter sagt: „Deutschland ist – nach einer sehr erfolgreichen Zeit ab 2012 und nach diesen Krisenjahren – Deutschland ist ein müder Mann nach einer kurzen Nacht.“ Und die niedrigen Wachstumserwartungen seien teilweise ein Weckruf. „Und jetzt haben wir eine gute Tasse Kaffee, das heißt Strukturreformen, und dann werden wir wirtschaftlich weiter erfolgreich sein.“
Lindner erklärte nicht näher, welche Strukturreformen er genau meint. Er suggeriert damit jedoch, dass die vielen wirtschaftlichen Probleme in Deutschland – die extreme soziale Ungleichheit, der Fachkräftemangel, die sinkende Konkurrenzfähigkeit aufgrund der mangelnden Innovationen, – erst seit kurzem da seien und keine jahrzehntelange Entwicklung darstellen würden.
Er suggeriert auch, dass die begründeten Ängste vor der grünen Transformation und den steigenden Kosten, ob bei den Bauern oder in der Industrie, mit nur einer Tasse Kaffee zu überwinden seien – und „dann wird wieder alles gut“. Bei allem Respekt, Herr Lindner: Die Menschen gehen nicht nach einer schlaflosen Nacht auf die Straße und wählen nicht die AfD, einfach weil sie müde sind und Koffein brauchen. Dann ist es zumindest ein kollektives Burn-Out, denn wie lässt sich stattdessen die Tatsache erklären, dass so viele Lehrer, Ärzte und Pflegekräfte ihren Job aufgeben wollen oder schon aufgegeben haben? Also selbst die Fachkräfte, die sich eigentlich um unsere Gesundheit kümmern?
Die Menschen in Deutschland trinken jeden Tag Kaffee und brauchen längst etwas Stärkeres, zumindest den Wodka. Da der Alkohol wiederum die Probleme nicht löst und sie nur verschärft, brauchen sie nun endlich eine vernünftige, gute Politik. Wie es ein Bloomberg-Autor vor kurzem auf den Punkt gebracht hat: „Deutschland ist reich, aber die Deutschen sind arm und wütend“, – zugespitzt, aber sehr treffend.
Lindner dürfte durchaus gute Absichten gehabt haben, er wollte nach außen offenbar eine Art von „Wir schaffen das“ als Signal geben, die deutsche Wirtschaft in gewissem Sinne vor verbalen Attacken verteidigen. Aber er muss sich dann nicht wundern, wenn seine Partei bei der nächsten Bundestagswahl eindeutig abgewählt wird. Lustig – und zugleich traurig – ist zudem, dass vor allem ausländische Medien zuletzt die treffendsten Analysen über die Zustände in der deutschen Wirtschaft liefern, nicht nur The Economist oder Bloomberg, aber auch die Financial Times oder selbst die New York Times. Viele einheimischen Medien dagegen argumentieren dagegen eher wie Lindner.
Das Weltwirtschaftsforum (WEF) gilt als Seismograph für den Zustand der Welt.
Die Wahrheit ist: Die Mitte der Gesellschaft fühlt sich vielleicht noch nicht arm, aber schon ärmer als je. Und sie hat noch mehr zu verlieren. Selbst in Italien und Spanien verfügt ein mittlerer Haushalt seit einigen Jahren über ein deutlich höheres Nettoeinkommen als einer in Deutschland. Das zeigt wiederum, wie ungleich die Gesellschaft hierzulande lebt, weil die Löhne zu sehr belastet und die Vermögens- und Erbschaftssteuern bei der Oberschicht dagegen zu niedrig sind.
Als wahrer FDP-Mann will Lindner die Wohlhabendsten allerdings nicht stören, weil höhere Steuer für die Oberschicht „Wohlstand und Wirtschaftskraft kosten“ würden, wie das Bundesfinanzministerium auf Anfrage erklärt. Stattdessen will er mit der Flexibilisierung der Grunderwerbsteuer den Erwerb von eigenem Wohnraum erleichtern oder etwa die Vermögensbildung am Kapitalmarkt erleichtern. Ob das für „Strukturreformen“ reicht? Das werden wir noch sehen. Mehr Druck auf die Politik und ein gewisser Skeptizismus sind aber weiterhin gefragt.