Wednesday, January 17, 2024
Davos: Wolodimir Selenski und seine verzweifelte Anklage an den Westen
Handelsblatt
Davos: Wolodimir Selenski und seine verzweifelte Anklage an den Westen
Artikel von Münchrath, Jens •
20 Std.
Der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski hält eine Rede in Davos data-portal-copyright=
Der ukrainische Präsident erntet begeisterten Applaus in Davos, doch seine Botschaft ist ernst.
Wolodimir Selenski betritt die Bühne und empfängt im großen Kongresszentrum einen Applaus, den man in dem gediegenen Ambiente von Davos durchaus als euphorisch bezeichnen kann. Und dann legt der ukrainische Präsident los.
Seine Rede – eine recht unverblümte Anklage an die westlichen Unterstützer. „Seit zehn, nicht erst seit zwei Jahren kämpfen Ukrainerinnen und Ukrainer gegen die russische Aggression“, ruft Selenski ins Plenum. Bei jeder Bitte der Ukraine um weitere Sanktionen gegen Moskau habe es im Westen geheißen: nur keine Eskalation. Und bei jeder Bitte um weitere Waffen habe es geheißen: nur keine Eskalation.
Aber, so Selenski, die befürchtete Eskalation sei nie eingetreten. Nichts habe „größeren Schaden angerichtet“ als diese zögerliche Haltung. Putin selbst habe nur die Angst geschürt.
Selenski sprach im Schweizer Skiort, nachdem seine Sicherheitsberater im Vorfeld des Weltwirtschaftsforums mit westlichen Kollegen über einen sogenannten Friedensplan debattiert hatten. Manch eine oder einer auf dem Davoser Zauberberg wollten das gar als erstes Signal für Friedensgespräche verstanden wissen. Spätestens nach der Rede Selenskis dürfte dem letzten Optimisten klar geworden sein, dass daran nicht zu denken ist. Nach Selenskis Einschätzung will Putin den Krieg fortsetzen. Gegen den Willen des Kreml lasse sich kaum Frieden beschließen.
„Putin wird sich nicht ändern“, sagt Selenski, „wir müssen uns ändern.“ Was das heißt, formulierte der Präsident so: „Wir in der freien Welt existieren nur so lange, wie wir uns wehren.“ Doch genau hier sieht er das große Defizit und fragt: „Welches europäische Land kann schon behaupten, über eine kampfbereite Armee zu verfügen wie die Ukraine?“
Putin dagegen sage ganz offen, was er wolle: einen Krieg ohne Grenzen. Über seine „finsteren Ziele“ gebe es keine Zweifel. In vielen Ländern der Erde, wo Russlands Krieg führe oder Terroristen unterstütze, sei das zu beobachten.
Zum Abschluss weist Selenski noch darauf hin, dass in jeder Rakete, die in seiner Heimat einschlage, westliche Komponenten steckten. Und mahnt: "Der globale Zusammenhalt darf nicht schwächer sein als die Aggression eines Mannes im Kreml. Wir wollen keine Vergeltung, wir wollen Gerechtigkeit“.
Der ukrainische Präsident will kämpferisch wirken in Davos, das ist klar. Er spricht mit fester Stimme, trägt seine übliche Militärkluft, versucht es streckenweise sogar mit Humor.
Doch seine Verzweiflung kann er nicht verbergen. Die Unterstützung des Westens lässt nach, die USA haben ihre Waffenlieferungen eingestellt, weil sich der Kongress nicht auf ein neues Hilfspaket einigen kann. Selenski bedankt sich zumindest für das, was er noch erhält. Er weiß, er braucht auch die Hilfe westlicher Investoren, sollte das Sterben in der Ukraine einmal vorbei sein und das zerstörte Land wieder aufgebaut werden.