Saturday, January 6, 2024
China-Versteher - Kein Tageslicht in den unteren Geschossen - das ist die größte Stadt der Welt
China-Versteher - Kein Tageslicht in den unteren Geschossen - das ist die größte Stadt der Welt
Artikel von Von FOCUS-online-Gastautor Alexander Görlach •
1 Std.
Die größte Stadt der Welt, gemessen an der Einwohnerzahl, ist Chongqing. Die chinesische Metropole hat mehrere Besonderheiten. Zum Beispiel eine U-Bahn-Linie, die durch ein Wohnhaus führt.
Um den Titel “älteste Stadt” wurde in Deutschland erbittert gekämpft: die keltische Gründung Worms am Rhein gegen die römische Stadt Trier. Das juristische Tauziehen durchlief mehrere Stadien.
Jetzt darf sich Wormatia „älteste Stadt“ nennen (was den Kolumnisten, der aus Worms stammt, natürlich freut). Wenn es um den Titel "größte Stadt" der Welt geht, gibt es ein ähnliches Ringen und Tauziehen.
Ohne zu viel zu verraten kann gesagt werden, dass der Schauplatz dieses Wettstreits weit weg von Deutschland oder gar Europa liegt. Die chinesische Stadt Chongqing macht derzeit von sich reden.
Leute können sich von Haus zu Haus unterhalten
Mit 32 Millionen Einwohnern nennt sich die Stadt die größte der Welt, obwohl sie nicht über das größte Stadtgebiet weltweit verfügt. Gemessen an der Einwohnerzahl ist Chongqing in der Tat die größte Stadt auf dem Globus.
In ihrer Mitte stapeln sich die Bewohner in Wolkenkratzern wie Bienenstöcke, die zum Teil so eng aneinander gereiht sind, dass die Leute sich von Haus zu Haus unterhalten können.
In die unteren Geschosse fällt oft überhaupt kein Tageslicht, sodass Chongqing mehr als einmal als Inbegriff einer dystopischen Stadt gebrandmarkt wurde. Am bekanntesten dürfte die U-Bahnlinie Transit 2 sein, die an einer Stelle durch ein Wohngebäude führt, in dessen Inneren auch ein Bahnhof ist.
Chongqing ist eine „Sonderwirtschaftszone“
Chongqing, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus mehreren Dörfern und Siedlungen zusammengewachsen ist, ist insgesamt die drittgrößte Metropolregion der Welt, Nummer eins ist Tokio mit 39 Millionen Menschen, Nummer zwei Jakarta mit 34,5 Millionen Einwohnern.
Es gibt nur vier Städte, die direkt der zentralen Gerichtsbarkeit der Volksrepublik China unterstehen. Peking, Shanghai, Tianjin und Chongqing, wobei letztere die einzige dieser Städte ist, die nicht in der Nähe des Meeres liegt.
Außerdem wurde sie als letzte zu einer der „Sonderwirtschaftszonen“, die die Grundlage für Chinas post-kommunistischen Aufstieg gelegt haben.
Nach Maos Tod erklärte Machthaber Deng Xiao-ping einige Städte des Landes zu solchen Zonen, in denen nach den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus gewirtschaftet werden durfte. Chongqing wurde erst 2007 in den Rang einer solchen „Sonderwirtschaftszone“ erhoben.
In einem Jahrzehnt wurden rund 250 Millionen Menschen umgesiedelt
Bis 1997 war Chongqing noch Teil der benachbarten Provinz Sichuan (Sezuan), die zumindest dem Namen nach jeder deutschen Gymnasialschülerin aus Berthold Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ bekannt sein dürfte.
Mit Sichuan verbindet Chongqing heute fast nur noch die gemeinsame Vorliebe für scharfes Essen, am so sogenannten „Sichuan Pfeffer“ wird auch in Chongqing nicht gespart.
Dass sich heute Menschen in Städten wie Chongqing türmen, ist das Ergebnis der Politik der Kommunistischen Partei, die mit großen Umsiedlungen dafür sorgte, dass in einem Jahrzehnt rund 250 Millionen Menschen vom Land in Städte umgesiedelt wurden.
Schon im Jahr 2013 berichtete die „New York Times“ dass fast jede Provinz über groß angelegte Programme verfügt, um Landwirte in Wohntürme umzusiedeln. Ihre Grundstücke werden dann zur Verwaltung an Unternehmen oder Kommunen übergeben.
Chongqings extremes Wachstum ist nicht organisch entstanden
Die von den Programmen betroffenen Landwirte hatten meist keine andere Wahl, als der Partei zu gehorchen und in die Stadt zu ziehen. Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass Chongqings extremes Wachstum nicht organisch, sondern auf dem Reißbrett entstanden ist.
In den frühen 1980er-Jahren lebten rund 80 Prozent der Chinesen auf dem Land, Ende 2022 waren es nur noch 35 Prozent. Die Bauern von einst wurden in Chongqing zu Fabrikarbeitern umfunktioniert.
Heute ist die Stadt in der Volksrepublik bekannt für Baumwoll-, Seiden-, Papier- und Lederwaren, die dort produziert werden, sowie Getreidemühlen, Färbereien und Pflanzenöl- und Lebensmittelverarbeitungsbetriebe.
Die Hauptmotivation für den Urbanisierungsschub bestand darin, die Wirtschaftsstruktur Chinas zu verändern, sodass das Wachstum am Ende auf der inländischen Nachfrage nach Produkten basiert und nicht so stark auf den Export angewiesen ist.
Diesen Autarkie-Ansatz verfolgt Machthaber Xi Jinping mit Nachdruck, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Die Wirtschaft lahmt und die Preise sinken. Kritiker haben zudem darauf verwiesen, dass eine künstliche Urbanisierung bereits in Brasilien und Mexiko nicht den gewünschten Erfolg gezeigt, sondern zu einem neuen Prekariat in den Städten geführt hätte.
Chongqing ist ein Touristenmagnet
Während der Unwetter im vergangenen Sommer stürzte außerdem ein Gebäude in Chongqing ein. Auch die Volksrepublik wird zunehmend von extremen Wetterphänomenen heimgesucht, Dürren in einem Landesteil, während ein anderer von Sturzfluten heimgesucht wird, sind keine Seltenheit mehr.
Die Frage ist, wie sich boomende chinesische Städte wie Chongqing gegen diese Phänomene wappnen können, die niemand im Blick hatte, als die neuen Metropolen quasi über Nacht von der Nomenklatura aus der Taufe gehoben wurden.
Viele Chinesinnen sind stolz auf die Stadt, die einige schon in einem Atemzug mit New York City zu nennen bereit sind. Ob Chongqing jemals an die Stadt der Städte (in der der Kolumnist heute lebt) heranreichen wird, kann nur die Zukunft zeigen.
New York ist New York, weil es eine pulsierende, freie Metropole in einem demokratischen Land ist.
Ein Touristenmagnet ist Chongqing allerdings - für die Chinesen. Denn verglichen mit manch anderer, rigiderer Stadt scheint es in Chongqing zumindest die eine oder andere Möglichkeit zu geben, dem Regime pop-kulturell einen Haken zu schlagen.