Saturday, September 16, 2023
Trainer, Spieler, Bürger: „Ewald Lienen – Eine griechische Tragödie“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Trainer, Spieler, Bürger: „Ewald Lienen – Eine griechische Tragödie“
Artikel von Peter Körte •
7 Std.
Ewald Lienen im Jahr 2012, als er den griechischen Traditionsclub AEK Athen trainierte.
Von „All or Nothing“ war jetzt ständig die Rede, von Innenleben und Außenwirkung der deutschen Nationalmannschaft, vom ungeplanten Timing, das die Amazon-Serie in die Nähe von Hansi Flicks Rauswurf rückte. Die Serie ließ nicht halb so viel erkennen, wie manche in sie hineinlasen. Sie räumte eher mit dem Irrglauben auf, Kameras in der Kabine würden tiefe Einsichten offenbaren.
Es ist da weit interessanter, einen auf Magenta TV laufenden Film anzusehen: „Ewald Lienen. Eine griechische Tragödie“. Auch wenn der Titel eine Nummer zu groß (schwer vorstellbar, dass Lienen selbst ihn ausgesucht hat) und eher unsinnig ist, weil zwar Lienens Zeit als Trainer bei AEK Athen tragisch gewesen sein mag, insofern sein Scheitern angesichts der Umstände unvermeidlich war, sich dieser Befund jedoch nicht auf Lienens gesamte Karriere übertragen lässt.
Diese Karriere ist, im Gegenteil, ein vitaler Beweis, wie jemand ein erfolgreicher Spieler und Trainer und zugleich ein sozial und politisch höchst wacher Bürger sein kann. Wenn man mit Lienen gewissermaßen aufgewachsen ist, ihn mit Haaren bis zum Hintern über die Bielefelder Alm hat rennen sehen, die Zunge dabei in die linke Wange gebohrt, konnte man sich schon vorstellen, dass aus dem Abiturienten mal ein besonderer Profi werden würde. Und das nicht nur wegen der 25 Zentimeter – so lang war die Fleischwunde im Oberschenkel, die die Stollen des Bremers Norbert Siegmann rissen und die vielen beim Namen Lienen als erstes einfällt.
Nach dem ersten Schock und der Empörung wusste Ewald schon damals, dass diese Verletzung eine Debatte über die Brutalität im Fußball auslösen würde. Siegmann kommt auch zu Wort im Film von Jesper Petzke, der Lienen zeigt, wie man ihn kennt: offen, klar, reflektiert, bescheiden. Nach 15 Trainerstationen, kurz vor seinem 70. Geburtstag, ist er noch immer der Mann, der eigentlich immer mehr sein wollte als Fußballer. Man sieht ihn in Schloß Holte bei Bielefeld, „wo er wech kommt“, wie man dort sagt, trifft ein paar Weggefährten. Lienens Frau Rosi, Sozialpädagogin, spielt eine wichtige Rolle. Allein oder im Duo erzählen sie, auch wie er als Profi nicht in die Karibik fuhr, sondern Ferien mit behinderten Kindern machte.
Das Problem des Films ist, dass er sich nicht entscheiden kann: zwischen dem Porträt eines außergewöhnlichen Fußballers und der Analyse jener dramatischen Episode, in die er 2012/13 als Trainer von AEK Athen geriet. So bleibt die Biographie Skizze, und die Vorgänge in Athen, als der Traditionsclub keine Gehälter mehr zahlte, 150 Millionen Euro Schulden aufgehäuft hatte und die Ultras das Vereinsgelände besetzten, werden eher kursorisch behandelt als gründlich recherchiert.
Wer da warum intrigiert, wer wie davon profitiert hat, dass AEK unter fragwürdigen Vorzeichen abstieg, das hätte man schon gerne genauer gewusst, Man muss sich da jedoch mit Ewalds trockenem westfälischen Humor begnügen, wenn er über seine Entlassung zwei Spieltage vor Saisonende nur sagt: „Es drohte der Klassenerhalt.“