Monday, September 4, 2023

Jetzt nehmen EU-Staaten ihre Migrationspolitik selbst in die Hand

WELT Jetzt nehmen EU-Staaten ihre Migrationspolitik selbst in die Hand Artikel von Carolina Drüten, Christoph B. Schiltz • 2 Std. In Europa kommen so viele Migranten auf irregulärem Weg an wie seit Langem nicht – besonders in Deutschland. Die EU findet keine Lösung. Nun fordert CDU-Chef Friedrich Merz, weitere Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Doch er übersieht einen entscheidenden Punkt. Friedrich Merz will nicht mehr warten – nicht auf die EU, die bei der Bewältigung der Migrationsströme nur schleppend Fortschritte macht, nicht auf die Bundesregierung, die in seinen Augen zu zögerlich gegen irreguläre Einwanderung vorgeht. Der CDU-Chef fordert, neben Moldau und Georgien auch Tunesien, Marokko, Algerien und Indien als sichere Herkunftsländer anzuerkennen, „damit wir sofort dorthin zurückführen können“, wie er der Funke-Mediengruppe sagte. Die Zahl der Ankünfte in Deutschland ist auf hohem Niveau, doch viele Migranten haben kein Bleiberecht. Abschiebungen scheitern häufig, weil die Herkunftsländer ihre Bürger nicht zurücknehmen. Merz‘ Forderung berührt also eine Schlüsselfrage. Doch die Deklarierung zu sicheren Herkunftsländern allein löst das Problem nicht. Auf europäischer Ebene lag die Zahl neuer Asylanträge im vergangenen Jahr so hoch wie seit den Spitzenwerten von 2015 und 2016 nicht mehr. Der Ukraine-Krieg hatte damit nur bedingt zu tun, denn ukrainische Flüchtlinge bekommen automatisch einen temporären Schutzstatus und müssen kein Asyl beantragen. Deutschland ist mit Abstand das beliebteste Zielland. Rund ein Viertel aller Asylanträge innerhalb der EU entfielen im vergangenen Jahr auf die Bundesrepublik. Fast die Hälfte dieser Asylanträge wird nicht bewilligt, also entweder abgelehnt oder inhaltlich nicht bearbeitet, wenn etwa nach dem sogenannten Dublin-Verfahren ein anderer europäischer Staat für den Asylsuchenden zuständig ist. Abgelehnte Asylbewerber sind ausreisepflichtig, es sei denn, sie erhalten eine Duldung. Bleiben sie dennoch in Deutschland, können sie abgeschoben werden. Doch daran hapert es. Im Juni lebten rund 280.000 ausreisepflichtige Menschen in Deutschland, von denen allerdings die meisten geduldet sind. Abschiebungen misslingen häufig auch deshalb, weil Herkunftsstaaten ihre Bürger nicht zurücknehmen. Eigentlich soll eine EU-Asylreform den Druck von den Mitgliedstaaten nehmen. Die Kernidee ist, den Zugang von Menschen ohne Anrecht auf Schutz zu reduzieren. Asylverfahren sollen bereits an der EU-Außengrenze innerhalb weniger Wochen und in geschlossenen Zentren durchgeführt werden. Der Tunesien-Deal funktioniert nicht gut Verwandtes Video: CDU-Chef Merz zur Migration: Kontrollen auch an deutscher Grenze, wenn nötig (ProSieben) Aber die Mitgliedstaaten können sich in wichtigen Punkten nicht einigen. Außengrenzstaaten wie Italien oder Griechenland wollen nur dann mehr Verantwortung tragen, wenn sie im Gegenzug auf die Unterstützung anderer EU-Länder zählen können, zum Beispiel durch einen EU-Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge. Dagegen sperren sich aber Länder wie Ungarn. Auch bei Rückführungsabkommen tut sich die EU schwer. Sie werden mit Staaten verhandelt, aus denen Asylbewerber mit geringer Schutzquote kommen, damit sie leichter abgeschoben werden können. Seit 2004 hat Brüssel 18 solcher Deals geschlossen. Das bekannteste besteht mit der Türkei, dem Haupttransitland für Migration aus dem Nahen und Mittleren Osten, weitere betreffen die Westbalkanstaaten und ehemalige Sowjetrepubliken, aber auch Russland, Hongkong und Kapverden. Wichtige Länder in Nordafrika fehlen. Eine Hürde etwa ist, dass alle EU-Länder zustimmen müssen. Mit Tunesien, über das die meisten Migranten aus der Region über das Mittelmeer übersetzen, schloss Brüssel zwar diesen Sommer einen Deal – der offenbar in der Praxis nicht funktioniert. Migrationsexperte Gerald Knaus nennt es im österreichischen Sender Puls 24 „in jeder Hinsicht gescheitert“. Seit der Einigung zwischen Brüssel und Tunis „hat sich die Zahl der Menschen, die über das Meer kommen, drastisch erhöht“. Zudem werde die wichtigste Frage nicht geklärt: „Jedes Konzept der Rücknahme fehlt“, so Knaus. Das liege auch an der katastrophalen Menschenrechtslage im Land. Auch habe Tunesien wenig Interesse, Migranten zurückzunehmen. Erst seit Kurzem fängt Brüssel an, neben Rückführungsabkommen auch auf Mobilitätsabkommen zu setzen, durch die Fachkräfte oder Studierende leichter in die EU einreisen können. So sollen die Deals attraktiver werden. Das Problem ist dabei, dass die meisten Migranten in Ländern wie etwa Rumänien ankommen, die Fachkräften aus Drittländern wie Marokko kaum erstrebenswerte Arbeitsmöglichkeiten bieten. Im Gegenzug müsste aber Marokko viele abgelehnte Asylbewerber von dort zurücknehmen. Verhandlungen mit Neu-Delhi In dieser komplexen Gemengelage starten einige EU-Länder Alleingänge. Mit Marokko etwa haben bisher Österreich und Spanien als einzige EU-Länder ein umfangreiches Migrations- und Mobilitätsabkommen; Wien schloss kürzlich auch mit Indien einen solchen Deal. Die beiden Drittländer gehören zu jenen, für die CDU-Politiker Merz einen Status als sicheren Herkunftsstaat gefordert hatte. Tatsächlich verhandelte die deutsche Bundesregierung bereits erfolgreich mit Neu-Delhi; seit Dezember besteht ein Abkommen mit einer Rückführungs- und einer Mobilitätskomponente. Spürbare Effekte blieben aber zunächst aus. Im ersten Quartal dieses Jahres führte Deutschland gerade einmal 13 Menschen nach Indien zurück. Sachsen-Anhalt hätte zu den Bundesländern gehören müssen, die von dem Abkommen mit am meisten profitieren, denn dort halten sich verhältnismäßig viele ausreisepflichtige Inder auf. Der zuständige Referatsleiter des dortigen Innenministeriums, Volker Harms, sagte jedoch der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass sich die indischen Behörden nicht kooperativ verhalten würden – trotz des Abkommens. „Am Vorgehen der indischen Botschaft hat sich bisher nichts geändert“, sagte Harms. Allein die Deklarierung als sicheres Herkunftsland nützt allerdings wenig, wenn der jeweilige Staat die abgelehnten Asylbewerber nicht aus Deutschland zurücknimmt. Das Beispiel Indien zeigt, dass auch umfassende Abkommen keine Allround-Lösung sind. Friedrich Merz hätte das wissen können – schließlich bemängelte sein Parteigenosse und Bundestagsabgeordneter Alexander Throm Ende April genau dies. Solche Abkommen, sagte er, seien „eben nicht das Wundermittel, wie die Ampel seit Monaten behauptet“. Viel wichtiger sei es, Druck auf die Herkunftsstaaten auszuüben, die sich querstellen. Leichter gesagt als getan.