Friday, September 15, 2023

Jetzt bekommt Pistorius’ Image als Anpacker deutliche Risse

WELT Jetzt bekommt Pistorius’ Image als Anpacker deutliche Risse Artikel von Johannes Wiedemann • 9 Std. Die Strukturen der Bundeswehr sind oft dysfunktional und unnötig aufgebläht. Verteidigungsminister Pistorius (SPD) lehnt eine grundlegende Reform dennoch ab. Damit vertut er eine große Chance, die Truppe zukunftsfähig aufzustellen. Boris Pistorius (SPD) gilt als Klartexter und Anpacker – und das kommt bei den Deutschen gut an: Schon kurz nach seinem Amtsantritt im Januar dieses Jahres setzte sich der Verteidigungsminister in demoskopischen Rankings der beliebtesten Politiker an der Spitze fest – teilweise mit weitem Abstand zum Rest. Das ist bis heute so geblieben. Kein Wunder: Gerade im Kontrast zu seiner heillos überforderten Vorgängerin Christine Lambrecht (SPD) vermittelte Pistorius der Bevölkerung den Eindruck: Bei der Bundeswehr geht es voran, die vom Kanzler ausgerufene „Zeitenwende“ beim deutschen Militär kann gelingen. Nicht zuletzt wegen der haushaltstechnischen Taktierereien innerhalb der Ampel-Koalition beim Wehretat ist aber inzwischen eine deutliche Skepsis geboten, ob das so passieren wird. Und nun sät Pistorius erstmals selbst Zweifel daran, wie ernst es ihm damit ist, die Bundeswehr grundlegend zu erneuern: Der Minister lehnt eine tiefgreifende Strukturreform ab. Diese empfahl etwa der Militärische Führungsrat, das höchste militärische Gremium der Bundeswehr, schon vor zwei Jahren: Ein entsprechendes Eckpunktepapier liegt seit 2021 vor. Es zielt im Kern auf eine Rückkehr zu einer Streitkräftestruktur wie im Kalten Krieg und würde zu einer Verschlankung nach dem Motto führen: weniger Stäbe, mehr Truppe. Doch eine solche grundlegende Reform will Pistorius nun nicht mehr angehen. Und bemüht dafür mit Bezug auf seine Erfahrung in Politik und Verwaltung eine Seefahrtmetapher: „Wir haben wahnsinnig viel am Hals. Jetzt in voller Fahrt, die wir gerade aufnehmen, an dem Schiff rumzubauen, neue Segel aufzuziehen und den Käpt‘n zu wechseln, ist keine gute Idee.“ Ein großer, aber nötiger Schritt Fragt sich nur: Wann würde denn eine Zeit kommen, in der Deutschland eben nicht mehr „wahnsinnig viel“ am Hals hat? Die sicherheitspolitische Bedrohung durch Russland und die daraus resultierenden Herausforderungen an die Nato etwa werden nicht enden, wenn Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine vorüber ist. Natürlich wäre ein Aufbrechen der verkrusteten Strukturen bei der Bundeswehr ein gewaltiges Unterfangen – zusätzlich zu anderen Herausforderungen, sei es der gravierende Mangel an Rekruten, Waffensystem und Munition, der Zustand der Kasernen oder das Chaos in der Sahel-Region. Aber eines, das die Bundeswehr am Ende umso schlagkräftiger machen würde. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel sieht in Pistorius’ Nein zudem die Hoffnung begraben, „dass die Verschlankung der Bundeswehr ein weithin sichtbares Beispiel sein könnte, dass dieses Land reformfähig ist“, wie er WELT sagte. Das weist in die richtige Richtung. Die zerstrittene Ampel-Regierung hat bislang nicht bewiesen, dass sie gewillt und fähig ist, nötige Grundsatzreformen anzugehen – ob bei der Migrationssteuerung, der Bewältigung der Wirtschaftskrise oder im Kampf gegen die Bildungsmisere an deutschen Schulen. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat offenbar diesen Eindruck – deren Unzufriedenheit mit der Bundesregierung ist zuletzt etwa im Deutschlandtrend auf ein Rekordhoch gestiegen. Der Verteidigungsminister wirkte oft wie die positive Ausnahme im von Streit geprägten Ampel-Kabinett: Der zieht sein Ding durch, konnte man meinen. Mit seiner Weigerung einen großen, aber nötigen Schritt zu wagen, bekommt dieses Image jetzt deutliche Risse – und Pistorius vertut eine große Chance für die Soldaten.