Friday, September 15, 2023

Hohe Migrationszahlen: Fluchtpunkt Deutschland

Tagesspiegel Hohe Migrationszahlen: Fluchtpunkt Deutschland Artikel von Knut Krohn, Albrecht Meier • 4 Std. Häufig ziehen Flüchtlinge von Staaten wie Italien nach Deutschland weiter. Das verdeutlichen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Aus dem Meer gerettet. Ein Schiff der italienischen Küstenwache bringt Migranten auf die Insel Lampedusa. Die Regierung in Rom nimmt seit dem vergangenen Dezember so gut wie keine Flüchtlinge mehr von Deutschland zurück, obwohl die betroffenen Personen zuerst in Italien den Boden der EU betreten haben. Das ist der Kern eines aktuellen Streits zwischen den Regierungen in Rom und Berlin. Er könnte sich demnächst noch verschärfen, weil in dieser Woche innerhalb von 48 Stunden rund 7000 Migranten auf der italienischen Insel Lampedusa angekommen sind. Laut der so genannten Dublin-Verordnung ist Italien für die Asylverfahren und die Unterbringung dieser Flüchtlinge zuständig. In der Praxis ziehen aber viele Migranten in andere EU-Staaten – häufig nach Deutschland – weiter, um hier einen Asylantrag zu stellen. Fachleute sprechen von „Sekundärmigration“. Weil Rom die Rücknahme von Migranten im Rahmen der Dublin-III-Verordnung weiterhin weitgehend verweigert, hat die Bundesregierung ihrerseits erklärt, im Rahmen eines freiwilligen Solidaritätsmechanismus vorerst keine Flüchtlinge mehr von Italien zu übernehmen. Der Mechanismus ist dazu gedacht, Erstankunftsstaaten wie Italien oder Zypern zu entlasten. Regierungssprecher Steffen Hebestreit wies am Freitag Vorwürfe zurück, dass Deutschland angesichts der akuten Flüchtlingskrise auf Lampedusa nicht genügend tue. Es werde von niemandem in der EU bestritten, dass sich Deutschland „maximal solidarisch zeigt“, sagte er. Bis Ende August 54.803 Übernahmeersuchen gestellt In welchem Maße Deutschland von der Sekundärmigration betroffen ist, lässt sich an Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ablesen. Demnach wurden von Deutschland zwischen Anfang Januar und Ende August 54.803 Übernahmeersuchen nach der Dublin-Verordnung an andere EU-Mitgliedstaaten gestellt. Darunter waren 12.452 Übernahmeersuchen an Italien und 4.368 Ersuchen an Griechenland, teilte ein Sprecher des Bamf dem Tagesspiegel mit. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Stephan Thomae, forderte, dass Rücküberstellungen in den eigentlich zuständigen EU-Staat vereinfacht werden müssten. „Die Dublin III-Verordnung ist geltendes Recht, an das sich alle EU-Mitgliedsstaaten halten müssen“, sagte er dem Tagesspiegel. „Es darf nicht zur Praxis werden, dass Flüchtlinge weitergeschickt werden, um sich der Verantwortung zu entziehen“, so Thomae. Um Mittelmeer-Anrainerstaaten wie Italien zu entlasten, brauche es nach seinen Worten gleichzeitig einen Fortschritt bei der geplanten Reform des EU-Asylsystems. Deutschland ist massiv von illegaler Sekundärmigration betroffen und trägt riesige Lasten bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten. Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion „Deutschland ist massiv von illegaler Sekundärmigration betroffen und trägt riesige Lasten bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten“, sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) müsse sich deshalb „für eine entscheidende Klarstellung im EU-Recht“ einsetzen, forderte der CDU-Politiker. „Personen mit Asylantrag in einem anderen Mitgliedsstaat müssen bei eigenmächtiger Weiterreise innerhalb der EU an den Binnengrenzen zurückgewiesen werden können“, so Throm. Eine weitere wirkungsvolle Maßnahme gegen die Sekundärmigration stelle außerdem die dauerhafte Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für das Asylverfahren dar, sagte er weiter. „Sozialleistungen sollten nur noch im zuständigen Mitgliedstaat bezogen werden können, auch nach Abschluss des Asylverfahrens“, verlangte Throm. Viele Flüchtlingsboote starteten in Tunesien Eigentlich wollte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Hilfe einer Absichtserklärung, die im Juli mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied geschlossen wurde, den Migrationsdruck verringern. Geplant ist unter anderem ein gemeinsamer Kampf gegen Schleuser. Doch das ist bislang nicht gelungen – im Gegenteil: Die Flüchtlingsboote, die in dieser Woche in Lampedusa ankamen, waren zuvor in der Regel von Tunesien aus gestartet. Noch am vergangenen Mittwoch hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Vereinbarung mit Tunesien in ihrer Rede zur Lage der Union in den höchsten Tönen gelobt. Tatsächlich steht das Abkommen vor dem Scheitern. Die Regierung in Tunis hat am Donnerstag einer Delegation des Europaparlaments die Einreise untersagt. Den Machthabern gefiel offensichtlich die Kritik an der Menschenrechtslage in dem Maghrebstaat nicht. Inzwischen stellt man sich in Brüssel die bange Frage, wie die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni weiter agiert. Sie zeigte sich nach ihrem Wahlsieg in vielen Bereichen erstaunlich kooperativ gegenüber der EU, da sie unter anderem auf das Geld der Union angewiesen ist. Doch nun bekommt die Postfaschistin Druck von ihren eigenen Koalitionspartnern. Vor allem der ultrarechte Lega-Chef und Vizepremier Matteo Salvini versucht, sich mit martialischen Aussagen auf Kosten Melonis zu profilieren. Er hat die Lage auf Lampedusa als „Akt des Krieges“ bezeichnet. In dieser verfahrenen Situation versucht sich die EU an einer Reform des Asylsystems. Doch die Zeit drängt, denn im Juni kommenden Jahres sind Europawahlen. Bis zu diesem Zeitpunkt soll ein tragfähiger Kompromiss stehen, denn die demokratischen Parteien befürchten angesichts der Migrationsproblematik einen massiven Rechtsruck im Europaparlament. Die EU-Innenminister hatten sich im Juni auf strengere Verfahren für Migranten mit einer geringen Bleibeperspektive an den EU-Außengrenzen geeinigt. Allerdings hat auch das Europaparlament noch ein Mitspracherecht, und dort sind die Pläne heftig umstritten. Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, beklagte, dass die EU-Mitgliedsstaaten den „moralischen Kompass“ verloren und sich auf eine Politik verständigt hätten, die Menschenrechte massiv abzubauen. Angesichts der katastrophalen Lage auf Lampedusa scheint nun eine Einigung weiter entfernt als je zuvor.