Thursday, September 14, 2023

«Dieses Westplaining überall: Es nervt! Immer treffe ich irgendwo auf einen Westdeutschen, der mir seine Sicht der Dinge mitteilen will»

Neue Zürcher Zeitung Deutschland «Dieses Westplaining überall: Es nervt! Immer treffe ich irgendwo auf einen Westdeutschen, der mir seine Sicht der Dinge mitteilen will» Artikel von Katharina Bracher • 2 Std. Sie kamen 1994 nach dem Mauerfall in Ostdeutschland auf die Welt. Wann wurden Sie zum ersten Mal «Ossi» genannt? Das war in Kassel, wo ich studiert habe. Da war ich so Anfang zwanzig. Wir hatten da eine Vorstellungsrunde unter Politologie-Studenten, wir sollten Magneten auf einer Deutschlandkarte platzieren, um zu zeigen, wo wir herkommen. Ich habe ihn auf «Dresden» gesetzt, und die Betreuerin sagte: «Ah, der Quoten-Ossi.» Sie wussten nicht, dass Sie ein «Ossi» sind? Nein, ich kannte das Wort «Wessi», aber ich habe daraus seltsamerweise nicht geschlossen, dass es auch eine Entsprechung im Osten geben müsse. Ich hatte da noch keinerlei Erfahrungen mit dem «Westen». Allerdings existierte für mich auch kein Osten. Sondern? Es gab Deutschland. Prägend dafür war die WM 2006, da war ich 12 Jahre alt. Das offizielle Motto lautete: «Die Welt zu Gast bei Freunden». Da realisierte ich, dass es ein «wir» gab, das Deutschland war. Wir waren die «Freunde». Und die spielten auch noch attraktiven, schnellen Fussball. Für mich gab es nur ein Land. Kannten Sie keine Witze über die «Wessis»? Doch, natürlich! Bei uns gibt es zum Beispiel diese Kaiserbrötchen, goldgelb, von aussen sehen die perfekt aus. Aber wenn man sie aufschneidet, ist da nur Luft. Wir nannten sie «Wessi-Brötchen», weil der äussere Schein trog; sie waren nicht so lecker, wie sie vorgaben zu sein. Die Wessis waren für mich so etwas wie die Ostfriesen, einfach eine Gruppe, über die man sich lustig machte, die man aber eigentlich nicht unbedingt kannte. Und wann ist es Ihnen zuletzt passiert, dass Sie als «Ossi» angesprochen wurden? Das war vor wenigen Wochen. Auf einem Balkon der Villa Aurora des Thomas-Mann-Hauses in Los Angeles. Da sprach mich ein Deutscher an, der schon lange in den USA lebte. Ich hatte zuvor eine Kurzpräsentation über das Romanprojekt, an dem ich gerade arbeite, gehalten, und der Mann war mit Sohn und Tochter im Publikum gesessen. Er näherte sich mir, ohne sich vorzustellen, und sagte: «Schaut mal, Kinder, so sieht jetzt ein Ossi aus.» Wie reagiert man auf so etwas? Perplex. Ich habe nicht verstanden, was da gerade passiert war, und reagierte wie ein Zootier: Ja, haha, hier bin ich, schaut mich an. Und es war ja auch nicht so, dass er die Gelegenheit genutzt hätte, um ein paar Nachfragen zu stellen zu dem, was ich vorher über meine Arbeit erzählt hatte. Das Einzige, was er fragte, war: «Woher genau bist du?» Ich sagte: «Görlitz.» Darauf er: «Ah, ich war schon einmal in Schwerin.» Das ist etwa so, wie wenn ich gesagt hätte: «Ich wohne in Hamburg» und er erwidert hätte: «Interessant, ich war schon einmal in Nürnberg.» Dann begann er mir zu erzählen, wie sie damals so war, die DDR. Mit dem Geld und mit den Häusern, die keine Farbe hatten. Allerdings geht es in Ihren Büchern um das Erbe der DDR und die ostdeutsche Identität. Sie haben sich das Thema ausgesucht. Dass ich etwas thematisiere, heisst ja nicht, dass ich das auch bin. Dass mich das ausmacht. Ich habe meine Arbeit nie als etwas Identitäres definiert. Ich habe zu keinem Zeitpunkt gesagt: «Schaut her, das bin ich, der Ostdeutsche.» Vielmehr habe ich einen künstlerischen Raum geöffnet. Aber es gibt immer Leute, die wollen das als Zuschreibung verstehen. Und es stimmt übrigens nur begrenzt, dass ich mir das Thema ausgesucht hätte. Inwiefern? Ich bin da hineingeboren. Und das ist Zufall. Meine Herkunft und meine Eltern habe ich mir nicht ausgesucht. Natürlich könnte ich über etwas anderes schreiben. Aber es ist halt das, was mich beschäftigt. Ich kann diese Gegenwart nicht beschreiben, ohne immer wieder festzustellen, dass da Unterschiede sind. Sie zeigen sich in der Sozialisation von uns Nachgeborenen, weil Eltern und Grosseltern in der DDR aufgewachsen sind. Ich habe die Folgen des Umsturzes erlebt, also die Nachwendezeit mit dem einsetzenden Neoliberalismus. Dass meine Eltern und Grosseltern lange aus demokratischen Prozessen ausgeschlossen waren, hat auch mich geprägt. Und das ist es, was mich interessiert. Nicht die Zeit der DDR. Versteht man im Westen, dass man in Ostdeutschland unter anderen Voraussetzungen aufgewachsen ist? Aus meiner Sicht viel zu wenig. Und deshalb nervt mich das, wenn so ein Westdeutscher kommt, der andere Erfahrungen mit diesem System gemacht hat: mit der Demokratie, der Marktwirtschaft, dem Neoliberalismus. Der sich dann hinstellt und alle diffamiert, die seine Erfahrungen eben nicht gemacht haben qua Geburt. Die Westdeutschen haben das Privileg, anders aufgewachsen zu sein als wir. Das ist eine andere Sprecherposition, man verfügt über ein anderes kulturelles Kapital. Was meinen Sie damit? Ich möchte, dass man seinen eigenen Erfahrungshintergrund als Westdeutscher erst einmal reflektiert, bevor man auf mich zukommt und mir den Osten zu erklären versucht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Und so treffe ich sogar in Los Angeles Menschen, die mir etwas über den «Osten» erzählen wollen. Egal wo, immer treffe ich irgendwo auf einen Westdeutschen, der mir seine Sicht der Dinge mitteilen will. Dieses Westplaining überall: Es nervt! Jetzt klingen Sie wie der Literaturwissenschafter Dirk Oschmann, der in seinem Bestseller «Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung» gegen die Selbstgerechtigkeit des Westens wettert. Ich verstehe Oschmanns Wut. Dass man im gesamtdeutschen Diskurs den Osten ständig als das schwarze Schaf in der Familie brandmarkt, das nichts gebacken kriegt und das die Aufarbeitung seiner Vergangenheit nicht hinbekommen hat, ist frustrierend. Gleichzeitig empfinde ich seine Kritik auch als teilweise antiquiert. Warum? Unter anderem schreibt er, dass der Osten keine Fürsprecher habe. Das stimmte vielleicht noch vor zwanzig Jahren. Ostdeutschland hat zum Beispiel eine starke literarische Stimme entwickelt. Hier werden heute die besseren Bücher geschrieben als im Westen. Und wir haben inzwischen viele Autoren und Journalistinnen, die aufgestiegen sind in den Redaktionen. Zum Beispiel der «FAZ»-Korrespondent Stefan Locke oder Martin Machowecz bei der «Zeit». Oder die Journalistin Valerie Schönian, die ein Sachbuch über uns Nachwendekinder geschrieben hat. Was ist denn der Unterschied zwischen alten Osterklärern wie Oschmann und dem Blick der Nachwendekinder? Oschmanns Generation kämpft anders. Es sind wütende Streitschriften wie «Integriert doch erst mal uns!» von Petra Köpping. Sie denken, dass sie nur mit dieser Wut überhaupt wahrgenommen werden. Dadurch zementieren sie das Ost-West-Gefälle. Nachwendekinder befassen sich hingegen mit sich selbst, mit der eigenen Herkunft, der individuellen Erfahrung, mit den Vorurteilen. Die neue Generation schafft ein Bewusstsein für das eigene Ostdeutschsein, indem sie Erfahrungen teilt. Oschmann geht eher davon aus: Wir sind die Ostdeutschen, weil ihr die Westdeutschen seid. Was haben Sie Oschmanns Generation voraus? Wir unterhalten uns zuerst miteinander. Und versuchen, eine Position zu finden. Ohne die alten Brüche heraufzubeschwören. Allerdings lässt sich an der Grenze zwischen Ost und West viel Interessantes ablesen. Das Wahlverhalten etwa unterscheidet sich. Die AfD räumte vor drei Monaten bei den Landratswahlen in Thüringen ab. Und Anfang September ist die Partei nicht nur dort im Umfrage-Hoch, sondern auch in Sachsen-Anhalt. Im Westen kommentiert man das als «Alarmsignal für die Demokratie». Sie leben in der Stadt Görlitz an der Grenze zu Polen. Wie wird das dort diskutiert? In meinem liberalen Freundeskreis fragt man sich gerade: Können wir in dieser Region weiterhin leben? Andere sagen: So schlimm wird es schon nicht kommen. Davon abgesehen, spüre ich eine Aufbruchstimmung in der AfD-Politik – gerade im Hinblick auf die nächsten Wahlen. Die Euphorie, mit der die AfD Wahlkampf macht, ist momentan besonders gross. Demgegenüber stehen Kommentare aus Westdeutschland, die ich als widersprüchlich empfinde. Entweder man berichtet im Panikmodus über die drohende Gefahr für die Demokratie, oder man fand alles halb so wild. Lukas Rietzschel ist 1994 in Sachsen geboren. Mit seinem Roman «Mit der Faust in die Welt schlagen» aus dem Jahr 2018 sorgte er für Aufsehen. ; Thomas Lohnes / Getty Lukas Rietzschel ist 1994 in Sachsen geboren. Mit seinem Roman «Mit der Faust in die Welt schlagen» aus dem Jahr 2018 sorgte er für Aufsehen. ; Thomas Lohnes / Getty © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland Und was meinen Sie? «Alles halb so schlimm» halte ich für eine fatale Fehleinschätzung. Im Osten ist man an einem Kipppunkt angelangt. Teile der Bevölkerung können sich nicht mehr mit der Politik identifizieren, die in Berlin gemacht wird. Seit der Wende haben sie sich nach den neuen Regeln der neoliberalen Marktwirtschaft gerichtet und hart gearbeitet, um einen gewissen Lebensstandard zu erreichen: ein Haus, ein Auto, Urlaub im Sommer. Nun haben sie das Gefühl, dass die grüne Politik ihnen das Autofahren vermiesen und vorschreiben will, wie sie ihr Haus zu beheizen haben oder mit welchem Verkehrsmittel sie in die Ferien reisen dürfen. Gleichzeitig schauen sie in ihren Städten und Dörfern auf eine marode Infrastruktur, fehlende Kitas, heruntergewirtschaftete Schulen und defizitäre Landeshaushalte. So sieht im Osten die politische Realität aus. Und dann wählen sie AfD. Ich verteidigte AfD-Wähler bis zu einem gewissen Punkt. Ich finde es eigentlich besser, wenn man wählen geht, als sich im Untergrund, abseits der öffentlichen Wahrnehmung und abseits gesellschaftlicher Normen, zu radikalisieren. Aber? Meine Meinung hat sich verändert, weil ich sehe, wie die AfD hier vor Ort in Görlitz Tag für Tag Falschmeldungen unter die Leute bringt, und das mit einem wütenden, teilweise aggressiven Ton. Und ich sehe, dass, anstatt Gegenwehr zu provozieren, der öffentliche Diskurs sich nach und nach verschiebt. Das mögen Liberale nicht gerne hören, aber ich fürchte, es geht nicht ohne Zwänge und Pflichten, um eine demokratische Grundordnung aufrechtzuerhalten. Schöne Worte helfen uns jetzt nicht mehr. Sondern? Die im Grundgesetz benannte «wehrhafte Demokratie» darf keine Phrase bleiben. Mein Vorschlag wäre erstens, die AfD und alle ihre Nachfolgeorganisation zu verbieten, damit unsere Gesellschaft sich befrieden kann, und zweitens unsere regionalen Parlamente per Losverfahren zu besetzen. Darum ging es eigentlich in meinem Essay. Hängengeblieben ist das AfD-Verbot. Ignorieren wir einmal die Tatsache, dass so ein Verbotsantrag höchstwahrscheinlich nicht durchkommen würde, wie man schon bei der rechtsextremen NPD gesehen hat: Wen würden AfD-Anhänger wählen, wenn es diese Partei nicht mehr gäbe? Würde sie das nicht erst recht in den Untergrund treiben? Ihre Anhänger sind radikalisiert, weil die AfD existiert. Wir dürfen nicht den Fehler machen, Ursache und Wirkung miteinander zu verwechseln. Weltweit sind Ärger und Ängste nicht die bestimmende Motivation, um rechte Parteien zu wählen. Ärger und Ängste steigen aber, nachdem rechte Parteien Wahlerfolge haben verbuchen können. Parteien wie die AfD verpesten das politische Klima, und es liegt am Machtopportunismus konservativer Parteien wie CSU und CDU, dass sich dieses Gift ungehindert in andere gesellschaftliche Milieus überträgt. Sie sind Mitglied der SPD und damit eher die Ausnahme im Osten, wo die Partei kaum neue Anhänger findet. Sind sozialdemokratische Positionen zu wenig attraktiv? Die SPD hat dasselbe Problem, mit dem andere etablierte Parteien zu kämpfen haben: Man glaubt nicht daran, dass sich eine Mitgliedschaft positiv auf ihr Leben auswirken kann. Das ist bitter, aber ich habe Verständnis dafür. Warum? Weil sich viele Bürgerinnen und Bürger von politischen Entscheidungsprozessen entfremdet haben. Zum einen, weil unser Bundestag längst nicht mehr die Vielfalt der deutschen Gesellschaft abbildet. Nichtakademiker etwa sind chronisch unterrepräsentiert. Ihre Meinungen werden bei politischen Entscheidungen zu wenig berücksichtigt. Und dann haben sogenannt nicht-majoritäre Institutionen wie Verfassungsgericht, Zentralbank, Expertengremien und Lobbygruppen einen immer stärkeren Einfluss. Diese Defizite nutzt die AfD aus. Aber anstatt sich wirklich tiefer damit zu befassen, welche Reformen wir für Deutschland brauchen, um alle am politischen Prozess teilhaben zu lassen, fordern sie die Beschneidung der Gerichte und eine Distanzierung von der EU. Sie wollen sich Macht sichern, indem sie Rechtsstaat und Demokratie so verändern, dass Opposition und unabhängige Kontrolle unmöglich werden. Im Osten dominiert das Gefühl des Abgehängtwerdens. Dabei hat sich die wirtschaftliche Integration des Ostens in den letzten Jahren fortgesetzt. Die Arbeitslosenquote, die Produktivität – alles scheint sich dem Westen anzugleichen. Der Osten ist nicht mehr so rückständig, wie viele meinen. Eigentlich geht es den Menschen besser als vor der Wende. Warum spürt man das im Osten nicht? Sie haben recht: Uns geht es gut. Die Einkommen und Renten steigen, das Wohlstandsniveau generell, sogar die Vermögen, wenngleich diese ungleich verteilt sind. Allerdings sind rechte Parteien ausgerechnet in jenen Ländern erfolgreich, in denen die Ungleichheit gesunken ist, so etwa in Österreich, den Niederlanden und Frankreich. Die sozioökonomische Lebensrealität hat wenig Einfluss auf die Wahlentscheidung. Das zeigen zahlreiche Studien. Ich will damit sagen, dass viele Ostdeutsche, anders als vom Westen kolportiert, ein ausgeprägtes demokratisches Bewusstsein haben. Die Herrschaft der SED endete ja auch, weil die Partei nicht bereit war, die von der Bevölkerung geforderten demokratischen Reformen zur Mitbestimmung und Teilhabe umzusetzen. In der DDR stand die Arbeitsgesellschaft im Zentrum. Kurz nach dem Mauerfall war diese aber nichts mehr wert, die Wirtschaft lag in Trümmern, und die Arbeitslosigkeit war hoch. Das wirkte sich negativ auf das Selbstbewusstsein der Menschen aus. Das stimmte zu Beginn wohl. Viele wurden damals in Frühpension geschickt oder in Qualifizierungsmassnahmen für den liberalen Arbeitsmarkt. Das hat sich sicher eingebrannt. So mancher fühlte sich überflüssig. Als Bürger zweiter Klasse. So wurde etwa das Rentenniveau in Ost und West erst in diesem Jahr angeglichen. Wenn man Ihnen so zuhört, dann bekommt man den Eindruck, die Ostdeutschen sind vor allem eins: bockig. Wo bleibt da die Selbstkritik? Es fällt schon auf, dass die Ostdeutschen oft als wütend oder meckernd betitelt werden. Jammer-Ossi, so nannte man das früher abwertend. Ich kann Ihnen aber versichern, dass unter den Ostdeutschen ein angeregter Diskurs über Selbst- und Fremdwahrnehmung geführt wird, über Deutungsansätze und neue Perspektiven. Da sind wir wieder bei der Selbstvergewisserung, von der ich am Anfang sprach. Ein Stereotyp über den Osten aber hält sich hartnäckig: die angeblich stark fremdenfeindliche Bevölkerung. Umfragen zeigen tatsächlich, dass xenophobe Einstellungen im Osten weiter verbreitet sind als im Westen. Haben Sie eine Erklärung dafür? Bei uns leben in einigen Landstrichen etwa ein Viertel mehr Männer, weil die gut ausgebildeten Frauen in den Westen gezogen sind. Aus Studien zum Wahlverhalten während der Präsidentschaftswahl in Österreich wissen wir auch, dass dort, wo Männer leben, eher konservative bis reaktionäre, rassistische Parteien gewählt werden. In der DDR gab es wenig Fremdes. Wenn, dann waren es Gastarbeiter aus Kuba, Moçambique oder Vietnam. Diese aber waren jeweils an den Siedlungsrändern kaserniert, echte Integration fand nicht statt. Und dann gab es später westdeutsche Vertragsarbeiter, die oft im Osten blieben. Diese Fremden wurden immer assoziiert mit: Die nehmen uns Arbeit weg. Eine andere Feststellung aus Umfragen: Ostdeutsche halten weniger von demokratischen Grundwerten als Westdeutsche. Und trotzdem ist es hirnrissig, zu glauben, dass die Radikalisierung und die Abkehr von der parlamentarischen Demokratie nur ein ostdeutsches Problem sei. Die Reichsbürger-Bewegung etwa besteht zum Grossteil aus Westdeutschen. Als die Gruppe, die den deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach entführen wollte, vor Gericht stand, schrieb die «FAZ» von ein paar Männern sowie einer Frau aus Sachsen. Es war offensichtlich wichtig, zu erwähnen, dass eine Person aus dem Osten war. Halten Sie die Reichsbürger-Bewegung für ein westdeutsches Problem? Rein von den Zahlen her, die bekannt sind: ja. Aber so wird das natürlich nicht gelesen von der Öffentlichkeit. Wenn es mehrheitlich die Westdeutschen betrifft, dann ist es nie eine westdeutsche Debatte. Aber wenn mehrheitlich Ostdeutsche dabei sind, dann wird daraus sofort wieder das «Problem des Ostens». Für den Westen ist es praktisch, wenn der Osten das Problem ist. Dadurch muss man sich nicht mit sich selbst beschäftigen. Stimmt es eigentlich, dass Ostdeutsche den russischen Angriff auf die Ukraine nicht ganz so kritisch sehen wie der Rest des Landes? Ich stelle mir schon auch die Frage, ob der Osten anfälliger ist für russische Narrative. Ob es hier eine grundsätzliche Russland-Freundlichkeit gibt. Aber wichtiger und wahrscheinlich richtiger finde ich die Feststellung, dass hier bisweilen einfach alles, was aus Berlin kommt, skeptisch beäugt wird. Völlig egal, ob es um Massnahmen gegen den Klimawandel oder um Covid-Impfungen geht oder um den russischen Angriff auf die Ukraine: Die Ostdeutschen sind nicht alles Russland-Freunde, aber viele lehnen die sogenannte offizielle Meinung einfach rundweg ab. Da sind wir wieder beim Trotz. Gibt es einen nennenswerten Unterschied zwischen Jung und Alt? Die Älteren haben gelernt, bei Verlautbarungen der Behörden deren Lügen zu entlarven und zwischen den Zeilen zu lesen. Diese DDR-Alltagsmethoden haben sie nahtlos in die BRD übergeführt. Es ist jedoch zu beobachten, dass dieses – ich nenne es mal: politische – Wissen zwischen den Generationen weitergegeben wird. In einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung, die in Görlitz durchgeführt wurde, wurde festgestellt, dass sich die politischen Einstellungen eines 50-jährigen Vaters und seines 20-jährigen Sohnes nur marginal unterscheiden. Dieses «Problem» stirbt also nicht einfach aus, wenn ich es mal so sagen darf. Was haben Ihre Eltern Ihnen eigentlich auf den Weg gegeben, als «Ossi» in Deutschland? Mein Vater gab mir etwas auf den Weg, mit dem ich zuerst gar nicht viel anfangen konnte: Versuche, dass du nicht als Sachse auffällst. Versuche, den Dialekt zu unterdrücken und Hochdeutsch zu sprechen. Er hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht. Heute spreche ich tatsächlich nur noch unter Sachsen Sächsisch. Gesponserter Inha