Tuesday, January 16, 2024
Zum Tod von Kay Bernstein: Ein Ultra als Präsident, als Präsident ein Ultra
Tagesspiegel
Zum Tod von Kay Bernstein: Ein Ultra als Präsident, als Präsident ein Ultra
Artikel von Stefan Hermanns •
2 Std.
Kay Bernstein war nur anderthalb Jahre Präsident von Hertha BSC. Trotzdem hat er den Verein durchdrungen und geprägt. Jetzt ist er im Alter von nur 43 Jahren überraschend gestorben.
Kay Bernstein, seit Juni 2022 Präsident von Hertha BSC, ist am Dienstag im Alter von 43 Jahren verstorben.
Kay Bernstein trug Flipflops an den Füßen. Er hockte im Schneidersitz im Gras, das nach Wochen der Dürre gelb und braun, aber schon lange nicht mehr grün war. Die Sonne brannte. Aber der Präsident von Hertha BSC, erst wenige Wochen im Amt, wollte das Interview lieber im Freien führen, im Schatten eines Baumes.
Eine kleine, auf den ersten Blick nebensächliche Begebenheit – und doch typisch für Kay Bernstein. Maximal ungezwungen und eben nicht präsidiabel steif: So hat er sich in seinem neuen Amt präsentiert. Selbst die, die ihm anfänglich oder immer noch kritisch gegenüberstanden, haben seine unkomplizierte und joviale Art geschätzt, seine Gabe, Menschen für sich einzunehmen.
In der Nacht auf Dienstag ist Kay Bernstein im Alter von nur 43 Jahren unerwartet verstorben. Das teilte der Berliner Fußball-Zweitligist am Mittag mit. „Der gesamte Verein, seine Gremien und Mitarbeitenden sind fassungslos und zutiefst bestürzt“, hieß es in einer Mitteilung des Klubs. „Die Hertha-Familie trauert mit Kays Hinterbliebenen und ist in dieser schweren Zeit in Gedanken bei seiner Familie, seinen Freunden und Wegbegleitern.“
Bernstein, der mutmaßlich einem Herzinfarkt erlegen ist, hinterlässt eine Frau und eine knapp dreijährige Tochter.
Das war jemand, mit dem man vernünftig reden konnte.
Dieter Hoeneß, der frühere Manager von Hertha BSC, über Kay Bernstein
Wie sehr Kay Bernstein Menschen für sich einnehmen konnte, das hat er am 26. Juni 2022 gezeigt, als er bei einer außerordentlichen Mitgliedsversammlung zum neuen Präsidenten von Hertha BSC gewählt wurde. Ein paar Wochen zuvor, scheinbar aus dem Nichts, hatte er seine Kandidatur bekannt gegeben. Als ehemaliger Ultra, Vorsänger der Kurve und, ja, auch als Schrecken des Establishments.
Hertha steckte mitten im Abstiegskampf. Werner Gegenbauer, seit einer kleinen Ewigkeit Präsident des Vereins, war erkennbar amtsmüde. Er hatte sich, was die Öffentlichkeit allerdings noch nicht wusste, längst zum Rücktritt entschieden. Als der erfolgreiche Unternehmer nach der geglückten Relegation gegen den Hamburger SV dann tatsächlich sein Amt zur Verfügung stellte, hatte sich Bernstein bereits als Kandidat positioniert.
Was anfangs wie eine spinnerte Idee wirkte, entfaltete mehr und mehr einen unerwarteten Zauber. Bernstein, gerade 41 Jahre alt und Inhaber einer Event- und Marketingagentur, stand für einen neuen Ansatz. Er wollte die Mitglieder mitnehmen, sie stärker einbinden und am Geschehen in ihrem Verein teilhaben lassen. Nach all den Jahren, in denen Gegenbauer den Klub wie ein Patriarch geführt hatte, klang das vielen tatsächlich wie eine Verheißung.
Trotzdem wurden Bernstein für die Präsidentenwahl nur Außenseiterchancen zugerechnet. Sein Gegenkandidat Frank Steffel, Präsident des Handball-Bundesligisten Füchse Berlin, galt als klarer Favorit. Ein exzellenter Strippenzieher, gut vernetzt, dazu als ehemaliger Bundestagsabgeordneter der CDU erfahren in politischen Auseinandersetzungen. Bei seiner Rede vor den Mitgliedern aber wirkte Steffel fahrig und wenig überzeugend. Ganz anders als sein Konkurrent.
Der Fußball war seine Rettung
Kay Bernstein trug ein weißes Hemd, aber darüber eben kein Sakko in getragenen Farben, sondern eine hellblaue Jacke aus dem Hertha-Fanshop, deren Design dem Trikot der Aufstiegssaison 1996/97 nachempfunden war. Als das Ergebnis der Wahl – 1670 Stimmen für Bernstein, 1280 für Steffel – verkündet wurde, brach im Auditorium Jubel los wie in der Ostkurve des Olympiastadions.
Bernstein ist im Erzgebirge geboren, in Dresden eingeschult worden und kurz vor der Wende mit seinen Eltern in eine Plattenbauwohnung nach Marzahn gezogen. Sozialisiert aber wurde er in Herthas Ostkurve. Mit 14 hat ein Freund ihn zum ersten Mal mitgenommen zu einem Hertha-Spiel ins Olympiastadion. Allein die Anfahrt mit Umstiegen in Springpfuhl, am Alex und am Zoo, war für ihn als Teenager eine kleine Weltreise.
Dass es Hertha wurde, damals Zweitligist wie heute, und nicht Union oder der BFC Dynamo: reiner Zufall. Dass es eine Beziehung fürs Leben wurde: eher kein Zufall. Der Fußball, so hat es Bernstein erzählt, habe ihn gerettet. Vier Jahre nach dem ersten Stadionbesuch hat er die Harlekins, Herthas erste Ultragruppierung, mitgegründet. Er wurde ihr Vorsänger und auch zweimal mit Stadionverbot belegt. Zu Unrecht natürlich, wie er selbst sagte.
Herthas starker Mann in jener Zeit war Dieter Hoeneß, Manager und Vorsitzender der Geschäftsführung. Hoeneß konnte herrlich schimpfen über die Ultras, aber insgeheim hat er Bernstein schon damals geschätzt, weil der „ein kleines Schlitzohr“ war. „Er war nicht komplett verbohrt“, hat Herthas früherer Geschäftsführer kurz nach Bernsteins Wahl zum Präsidenten erzählt. „Das war jemand, mit dem man vernünftig reden konnte.“
So wie Anfang des Jahrtausends, als Hertha im Uefa-Cup bei Viking Stavanger in Norwegen antreten musste. Wenige Stunden vor dem Spiel waren die Trikots des Gegners aus der Kabine entwendet worden, der Verdacht fiel auf die Ultras aus Berlin, und so klingelte irgendwann Bernsteins Handy.
Dieter Hoeneß war dran und erzählte, dass Stavanger keine Ersatztrikots habe und dass das Spiel eventuell abgesagt werden müsse. „Ob das eine Finte war, weiß ich nicht“, sagte Bernstein mehr als 20 Jahre später. Jedenfalls tauchten die Trikots kurz darauf wieder auf.
Über die Person Kay Bernstein könne er nichts Negatives sagen, hat Hoeneß im Sommer 2022 erzählt. „Er war ein Hardcorefan, der es toll fand, dass er die Kurve animieren konnte. Aber natürlich hat er sich weiterentwickelt.“
Ich nutze die positiven Attribute der Ultra-Bewegung wie Einsatzbereitschaft für den Verein, sich aufopfern, Zeit investieren, soziales Engagement. Das ist auch Ultra. Nur nicht mehr in der Kurve, sondern in der Vereinsführung.
Kay Bernstein
Trotzdem ist Bernstein seine Vergangenheit als Ultra nie richtig losgeworden. Im ersten Urlaub wenige Wochen nach seiner Wahl, wie in jedem Sommer auf einem Camping-Platz in Usedom, „habe ich lange darüber nachgedacht, wie ich mit dem Stempel Ex-Ultra umgehe“, hat Bernstein im Interview mit dem Tagesspiegel erzählt.
Er könne sich auf den Kopf stellen, los werde er diesen Stempel sowieso nicht. „Also sage ich: Ich nutze die positiven Attribute der Ultra-Bewegung wie Einsatzbereitschaft für den Verein, sich aufopfern, Zeit investieren, soziales Engagement zeigen. Wenn ich Vollzeit-Präsident im Ehrenamt bin und all das beherzige, dann ist das auch Ultra. Nur nicht mehr in der Kurve, sondern in der Vereinsführung.“
Bernstein hat den Ton vorgegeben
So wie Bernstein in seinen wilden Jahren als Vorsänger den Ton in der Kurve vorgegeben hat, so hat er es als Präsident auch für den gesamten Verein getan. Als Ultra hat er seine Farben verteidigt, als Präsident hat er für eine Ideen gestritten. Und das konnte mitunter auch weh tun.
Hinter der freundlichen Fassade steckte eben auch ein Machtmensch. Bernstein hat sich eingemischt, auch ins Tagesgeschäft und das mehr, als es seine Funktion als Präsident des eingetragenen Vereins eigentlich hergegeben hätte.
Er hat die Zusammenarbeit mit dem Investor Lars Windhorst unter lautem Getöse abgewickelt, dafür das amerikanische Unternehmen 777 Partners und dessen Geld in den Klub geholt. Er hat sich von Fredi Bobic, dem Geschäftsführer Sport, getrennt und dessen Aufgaben an zwei Ur-Herthaner, den früheren Spieler Andreas „Zecke“ Neuendorf und den ehemaligen Leiter der Nachwuchsakademie Benjamin Weber, übertragen, an „zwei Identifikationsfiguren, die für diesen Verein brennen“, wie Bernstein sagte.
Den Berliner Weg sollte Hertha künftig gehen, wieder vermehrt auf Spieler aus dem eigenen Nachwuchs setzen, sich der eigenen Wurzeln besinnen.
Aber dass der Profifußball kein Hort für Ideale ist, das hat auch Kay Bernstein auf schmerzhafte Weise feststellen müssen. Sein erstes Jahr im Amt endete mit dem Abstieg aus der Zweiten Liga. Hertha wandelte am Rande der Insolvenz, und der Präsident, als ehemaliger Ultra per se skeptisch gegen Investoren im Fußball, musste 777 Partners mehr Einfluss einräumen, als Windhorst je besessen hat. „Man ist gefangen in der Realpolitik“, hat Bernstein vor anderthalb Monaten in einem Interview mit der „taz“ gesagt.
Aber Bernstein hat auch ein Gefühl bedient. Ein Hertha-Gefühl. Der Klub ist den Menschen inzwischen nicht mehr egal, so wie es der neue Präsident zu Beginn seiner Amtszeit beklagt hat. Allen sportlichen und finanziellen Problemen zum Trotz scheinen sich viele Fans so sehr mit ihrem Verein zu identifizieren wie lange nicht.
Das liegt auch an Kay Bernstein, der auch im neuen Amt mehr Fan als Funktionär war. „Ich springe auf, freue mich, bin sauer und enttäuscht“, hat er selbst einmal erzählt. „Meine Leidenschaft und Emotionen sind nicht plötzlich weg, nur weil ich jetzt dieses Amt innehabe. Ich werde noch genauso von der Hoffnung gepeitscht, dass wir gewinnen.“
Zuletzt, wenige Tage vor seinem Tod, hat er davon gesprochen, dass man im Mai mit dem DFB-Pokal durchs Brandenburger Tor fahren werde. Ein Scherz? Vielleicht. Ein Traum? Ganz sicher. Und gar nicht mal so realitätsfern. Ende des Monats trifft Hertha im Viertelfinale im ausverkaufen Olympiastadion auf Kaiserslautern. Zwei Siege fehlen bis zum Einzug ins Finale, ebenfalls im Olympiastadion. Drei bis zum Titel.
Es wäre der erste für Hertha seit fast hundert Jahren. Und es wäre natürlich auch der erste für Kay Bernstein gewesen, der 1994 zum ersten Mal ins Olympiastadion gefahren ist. Der in Marzahn in die Straßenbahn gestiegen ist und sich auf den Weg gemacht hat ans andere Ende der Stadt. „Für mich war es die weite Welt.“