Monday, January 8, 2024
Proteste und Doppelmoral: Weinen mit Habeck, schweigen gegenüber den Bauern
Telepolis
Proteste und Doppelmoral: Weinen mit Habeck, schweigen gegenüber den Bauern
Artikel von Harald Neuber •
2 Std.
Aufregung über die Blockaden durch Agrarproteste. Wohlwollende Akzeptanz von Blockaden durch Klimaaktivisten. Warum der Widerspruch problematisch ist. Ein Telepolis-Leitartikel.
Auf den ersten Blick ist die politische und mediale Aufregung um die Blockade einer Personenfähre in der vergangenen Woche mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) an Bord verständlich. Die Scheinheiligkeit wird erst auf den zweiten Blick offenbar.
Unabhängig von der Motivation der Demonstranten am Fähranleger und ihren Zielen: Dass die Nötigung eines Ministers, der für die wirtschaftliche Belastung eines Großteils der Bevölkerung Mitverantwortung trägt, so viel Empörung hervorruft, bedarf zumindest einer kritischen Kommentierung.
Denn Nötigung durch Demonstranten haben in den letzten Wochen, Monaten und Jahren viele tausend, vielleicht zehn- oder gar hunderttausende Menschen erlebt. Nämlich durch die Klimademonstranten der "Letzten Generation".
Verstehen Sie mich nicht falsch: Das war kein politischer Vergleich, sondern ein technischer. Ist es nach allgemeiner gesellschaftlicher Moral legitim, Bürgerinnen und Bürger massenhaft zu nötigen und sie ihrer Freiheit zu berauben, wenn es um das Fernziel Klimawandel geht? Und ist es moralisch legitim, diese Nötigung als Teil der politischen Aktionsform gegen einen Minister zu verurteilen, der die unmittelbare Verantwortung trägt?
Diese Frage soll im vorliegenden Text aufgeworfen werden; beantwortet werden kann sie nicht. Denn die Antwort kann nur das Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung sein. Und auch hier bedarf es einer kritischen Kommentierung.
Denn viele Medien, allen voran die öffentlich-rechtlichen, scheinen ihr Urteil gefällt zu haben: Blockade der Kurzzeit-Ministerfähre: böse. Blockade tausender Bundesbürger: okay.
Ungleiche Empathie
Gebührenfinanzierte Redaktionen wie die der Tagesschau lieferten, wie politisch bestellt, die rührselige Geschichte einer Familie, die mit Habeck buchstäblich in einem Boot saß. Und das war kein Spaß, wie man dem Text entnehmen konnte. Vor allem die Kinder hätten Angst vor den aggressiven Demonstranten gehabt und geweint.
Schlimm, ohne jeden Zweifel und vor allem ohne jede Ironie. Aber wo war die Empathie für die weinenden Kinder, deren Mamas, Papas, Omas und Opas im Stau der "Letzten Generation" standen? Die nicht zum Kindergeburtstag kamen, nicht zu Freunden, nicht zu Terminen? Die Konflikte an der Klimaklebelinie miterlebten.
Klimaaktivisten müssen Ziele und Dramatik überhöhen
Die Argumentation der Befürworter ist vorhersehbar: Das sei überhaupt nicht vergleichbar, das Schicksal der Bauern nichts gegen das Schicksal des Planeten. Diese Argumentation funktioniert aber nur, wenn man sich innerhalb des Gedankengebäudes der Klimaaktivisten bewegt.
Damit soll hier der Klimawandel nicht geleugnet werden. Aber die Dramatik der Situation und vor allem die Frage, inwieweit wir die Entwicklung beeinflussen können.
Nicht ohne Grund wird das zweifellos wichtige und vielleicht sogar wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik der Bundesregierung oft verdreht. Denn nein, die Verfassungsrichter haben die Bundesregierung nicht zu mehr Maßnahmen aufgefordert, für die man nun auf die Straße gehen und einen erheblichen Teil der Bevölkerung drangsalieren müsste.
Mit dieser Fehlinterpretation des Bundesverfassungsgerichtsurteils räumte auch der Jurist Thomas Groß im Interview mit Telepolis auf, obwohl er durchaus zu den Verfechtern einer vehementen Klimaschutzpolitik gehört:
Das unmittelbare Ergebnis des Urteils war lediglich die Verpflichtung, einen Anhang des Gesetzes um zehn Zahlen für die Jahre nach 2030 zu ergänzen, was auch zügig geschehen ist. Parlament und Regierung wurden hingegen nicht verpflichtet, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um eine tatsächliche Reduktion der Treibhausgase zu erreichen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begründung lediglich angemahnt, dass die Verpflichtungen aus dem Gesetz umgesetzt werden müssen.
Wie kann man also Straßenblockaden rechtfertigen, die eines Ministers aber per se verurteilen? Das lässt sich aus der Aktionsform nur erklären, wenn eine Parteinahme zugrundelegt. Für die Bauern und auch einen Teil der Verbraucher, die höhere Preise zu spüren bekommen werden, kann das nur zynisch wirken.
Das Kampffeld Straße
Diese Doppelmoral gegenüber Nötigung und Freiheitsberaubung als Mittel politischen Aktionismus schadet auch der politisch legitimen Kritik an denen, die dort am Fähranleger Schlüttsiel aufmarschiert zu sein scheinen. Die Frage nach der politischen Zusammensetzung der Protestbewegung vor der Fähre in der vergangenen Woche und auf den Straßen der Republik am heutigen Montag muss gestellt werden. Und diese Frage ist weit weniger umstritten als die erstgenannte.
Denn hier gilt: Die vermeintliche Stärke der Rechten und Rechtsextremen bei den Bauernprotesten ist zugleich die Schwäche der bürgerlichen Parteien und der Linken.
Der fehlende politische Erfolg wird vonseiten dieser Akteure dadurch zu kompensieren versucht, dass der in der Protestbewegung erfolgreiche politische Gegner diffamiert wird – und die gesamte Protestbewegung gleich mit. So kauft man als Linke und Grüner vormittags deutsche Kartoffeln und beschimpft nachmittags deren Erzeuger pauschal als Rechtsextremisten.
Unterschiedlicher Umgang mit Protest
Bemerkenswert ist der unterschiedliche Umgang mit den Kids aus der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht, die für ihre tatsächliche oder vermeintliche Zukunft auf die Straße gehen, und den durchaus auch verzweifelten Bäuerinnen und Bauern, die für die Zukunft ihrer Betriebe und Familien auf die Straße gehen – und für unser aller Ernährungssicherheit.
In der unterschiedlichen Bewertung zeigt sich auch eine zunehmende Inkongruenz: Während die Menschen von der Corona-Politik über Inflation und Treibstoffpreise bis hin zur aktuellen Belastung durch den Pleitehaushalt der Ampel von konkreten Problemen, Ängsten, Sorgen und Hoffnungen getrieben werden, steht ihnen in Regierung und Aktivismus eine politische Kultur gegenüber, die von irrational verzerrten Zielen wie "Verteidigung der Freiheit in der Ukraine" oder "Rettung des Planeten" geprägt ist.
Nicht nur dieser Mangel an politischem Verständnis ist ein Problem. Es ist auch die Tatsache, dass diese Konflikte zunehmend auf der Straße ausgetragen werden, auf Kosten der Mehrheit der Menschen im Land.