Saturday, September 16, 2023
Warum sich Berlin bei Sicherheitszusagen für Kiew zurückhält
WELT
Warum sich Berlin bei Sicherheitszusagen für Kiew zurückhält
Artikel von Gregor Schwung •
11 Std.
Andere Länder verhandeln längst mit Kiew, wie die Sicherheit der Ukraine künftig gewährleistet werden kann. Doch Deutschland hat entgegen seiner Zusage beim Nato-Gipfel noch keine bilateralen Gespräche in der Sache aufgenommen – obwohl Kanzler Scholz sich bereits einmal weit vorgewagt hatte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhofft sich mehr Unterstützung von Olaf Scholz
Im März legt Olaf Scholz den Schalter um. „Unser ‚Nie-wieder‘ bedeutet, dass sich Putins Imperialismus nicht durchsetzen darf“, ruft er bei seiner Regierungserklärung dem Bundestagsplenum zu. So klar wie nie zuvor sagt der Kanzler, dass der Schutz der Ukraine nichts weniger sei als die historische Verantwortung der Bundesrepublik.
Erstmals erwähnt er von sich aus „Sicherheitszusagen“ des Westens für Kiew. Wenige Monate später schnürt er das größte Waffenpaket für die Ukraine und feiert Deutschlands Position als zweitgrößter Unterstützer nach den USA.
Doch mittlerweile ist Scholz’ Enthusiasmus wieder verflogen. Beim Nato-Gipfel in Vilnius fällt der Westen – auch wegen deutschen Drucks – in seiner Ukraine-Unterstützung zurück. Kiew erhält keine Einladung in die Nato und die G-7-Staaten versprechen bilaterale Sicherheitszusagen als Trostpreis.
Eigentlich müssten Berlin und Kiew darüber längst verhandeln, wie die Ukraine es mit den USA, Großbritannien, Kanada und Frankreich bereits tut. Doch selbst das geschieht nicht.
Putin brach die Vereinbarung, der Westen ließ es geschehen
Damit ist Scholz in dieser Sache zu jener Zurückhaltung zurückgekehrt, die er schon zu Beginn des Krieges an den Tag legte. Die Frage nach Sicherheitsgarantien diskutierten die G-7-Staaten bereits bei ihrem Gipfel im bayerischen Elmau im Juni vergangenen Jahres. Danach gefragt, ob er konkretisieren könne, was dies für die Ukraine bedeuten würde, sagte Scholz damals lediglich: „Ja, das könnte ich.“
Mehr war ihm nicht zu entlocken. Der Kanzler war seitdem kurz angebunden, wenn es um das Thema ging – bis zur Regierungserklärung im März, in der er Sicherheitszusagen ins Spiel brachte. Dass er wenige Monate später gar von „wirkungsvollen Sicherheitsgarantien“ sprach, nahm man in Kiew erfreut zur Kenntnis. Denn es handelt sich dabei nicht um einen semantischen Unterschied, sondern impliziert ein viel höheres Maß an Verbindlichkeit.
Die Ukraine ist in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind. Im Rahmen des „Budapester Memorandums“ ließ sich Kiew nämlich schon einmal darauf ein, sich vom Westen Sicherheitsversprechen geben zu lassen. 1994 stimmte Kiew zu, als Gegenleistung für Sicherheitszusagen Russlands, der USA und Großbritanniens, alle seine Nuklearwaffen abzugeben. Die Ukraine besaß zum damaligen Zeitpunkt das weltweit drittgrößte Atomwaffenarsenal.
Das Memorandum enthielt aber keine konkreten Verpflichtungen der westlichen Führungsnationen. Mit seiner Invasion 2014 und dann erneut 2022 brach Putin die Vereinbarung – und London und Washington ließen es geschehen.
Dass der Westen auch heute keine Beistandsverpflichtungen aussprechen wird, ist der Ukraine klar. Was Kiew unter Sicherheitsgarantien versteht, hat die Regierung im sogenannten „Kyiv Security Compact“ bereits ausgearbeitet.
Im Kern beinhaltet das Dokument vier Säulen: Die Garantiestaaten verpflichten sich erstens, die Ukraine langfristig mit Waffen zu beliefern, zweitens, ukrainische Soldaten auf ukrainischem Territorium auszubilden, drittens, eine leistungsfähige ukrainische Verteidigungsindustrie aufzubauen und viertens, Geheimdienstinformationen mit Kiew auszutauschen.
In Vilnius schaltet Scholz einen Gang zurück
„Mit Sicherheitsgarantien, die eine mehrjährige Unterstützung zusichern, würden wir Wladimir Putin zeigen, dass er diesen Krieg nicht aussitzen kann“, sagte Ex-Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen, der das Konzept im Auftrag der Ukraine mit ausgearbeitet hat, im Juni WELT. „Man hat mir versichert, dass Deutschland an Bord ist“, sagte er damals.
Das war vor dem Nato-Gipfel im Juli. In Vilnius schaltete Scholz aber wieder einen Gang zurück. Weder erhielt die Ukraine eine Einladung in das Verteidigungsbündnis, noch ein Versprechen für Sicherheitsgarantien. Die G-7-Staaten sagten Kiew lediglich zu, Sicherheitszusagen auszuarbeiten – und zwar jeweils bilateral.
Das zumindest sollte jedoch schnell passieren. „Heute bringen wir Verhandlungen auf den Weg“, hieß es in dem Kommuniqué am 12. Juli. Tatsächlich verhandeln die USA seit Ende Juli mit Kiew, Großbritannien und Kanada seit August und Frankreich seit Anfang September.
Deutschland ist einer der letzten drei G-7-Staaten, die trotz des Versprechens eines „unverzüglichen“ Beginns der Gespräche noch nicht mit der Ukraine verhandeln, wie WELT AM SONNTAG aus ukrainischen Regierungskreisen erfuhr. Dies bestätigte das Kanzleramt auf Anfrage. „Die Abstimmung mit der Ukraine zur Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zur Unterstützung der Ukraine ... ist in der inhaltlichen Vorbereitung“, teilte ein Regierungssprecher mit.
Warum Deutschland noch nicht verhandelt und somit eine nachgeordnete Rolle unter den westlichen Staaten einnimmt, bleibt unbeantwortet. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Verhandlungsbeginn mit den anderen Staaten jeweils auf die Initiative Kiews zurückging.
Fraglich ist, wie viel sich die Ukraine von Deutschland überhaupt erhoffen könnte. Zwei Probleme gelten als ausgemacht: Berlin ist beim Thema Ausbildung ukrainischer Soldaten auf ukrainischem Territorium extrem zurückhaltend. Auch einem Geheimdienstaustausch dürfte die Bundesregierung nicht ohne Weiteres zustimmen.
Das Bundesinnenministerium führt die Ukraine – neben Afghanistan, Syrien, Nordkorea und Russland – auf einer Liste mit Staaten, von denen „besondere Sicherheitsrisiken“ ausgehen und an deren Staatsbürger laut dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz keine Verschlusssachen weitergegeben werden dürfen.
Gut möglich also, dass die Ukraine zunächst Verhandlungen mit wohlwollenderen Staaten priorisiert und ein Papier aushandelt, das dann in Verhandlungen mit Berlin als Ausgangspunkt dienen kann.