Saturday, September 16, 2023

Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land, in dem man viel liest, eine stärker verankerte Demokratie besitzt als Länder, in denen Romane geringgeschätzt werden

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land, in dem man viel liest, eine stärker verankerte Demokratie besitzt als Länder, in denen Romane geringgeschätzt werden Artikel von Mario Vargas Llosa • 2 Tag(e) In Salzburg sucht er die Musen und die Musse: der Autor und Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Ich werde nie den Tag vergessen, vor vielen Jahrzehnten, an dem Ernst Keller, ein Schweizer Unternehmer, der sich in Peru niedergelassen und dort eine Bildungsstiftung gegründet hatte, meine Frau Patricia und mich mit einem Bündel Eintrittskarten für die Salzburger Festspiele erwartete. «Das ist mein Geschenk, weil du dich auf die Kandidatur für die Präsidentschaft eingelassen hast. Ich halte meine Versprechen.» Es waren Karten für sämtliche Vorstellungen des 1920 gegründeten Festivals, das jeden Sommer mit den renommiertesten Orchestern, Regisseuren und Sängern aufwartet. Und es war das einzig Positive an meiner Wahlkampagne, an die ich im Übrigen nur schmerzvolle Erinnerungen habe. Seit damals sind Patricia und ich jeden Sommer nach Salzburg gereist, um uns gute Musik zu gönnen und die besten Opern zu besuchen. Seitdem lese ich auch die Musikkritiken in der Presse und Artikel über die Veranstaltungen, auch wenn mir die Zeit fehlt, alles zu lesen, was ich gerne lesen würde. Nun bin ich nach einer Pause von acht Jahren ins Paradies zurückgekehrt. Seit ich das erste Mal dank Ernst Keller herkam, ist der Tagesablauf immer der gleiche: zeitig aufstehen, frühstücken und einen Spaziergang entlang der Salzach unternehmen. Wenn es nicht regnet, brauchen wir für die Strecke etwa anderthalb Stunden. Anschliessend folgen die musikalischen Matineen und an den Vormittagen, an denen keine Konzerte stattfinden, intensive Stunden der Lektüre. In der Regel lese ich Romane, die sich im Laufe des Jahres angesammelt haben. Es ist ein wahres Glück, sich diesen liegengebliebenen Büchern zu widmen, unter denen sich jedes Mal ein Meisterwerk befindet, das Neid weckt, und sich andere befinden, vor denen man sich verneigen muss. Wenige Eskapaden Das Leben vergeht angenehm in dieser Enklave der Kunst. Die Gepflogenheiten in dieser Stadt scheinen sich nicht sonderlich verändert zu haben, seit ich 1987 das erste Mal hier war. Die Restaurants sind dieselben, unter ihnen mein Lieblingsrestaurant Pan e Vin, das einem Freund gehört und wo es das beste Essen gibt. Regelmässig treffe ich auf bekannte Gesichter oder auf Menschen, die ich zum ersten Mal sehe und mit denen ich mich angeregt über die gerade gesehene Oper oder das gerade gehörte Konzert unterhalte. Es gibt dort einen italienischen Wein, ein Cuvée aus Nebbiolo und Barbera, das eine wahre Wonne ist und mit dem ich mich liebend gerne betrinken würde, wenn ich nicht ein so zurückhaltender Trinker wäre. Hin und wieder gehe ich auch ins Café Tomaselli, um die besten Würste der Stadt zu essen. Doch diese Eskapaden sind selten, denn abgesehen vom Besuch der zahlreichen Konzerte verbringe ich die Tage mit dem Lesen der Romane, wofür mir sonst wegen meiner zahlreichen literarischen Verpflichtungen die Zeit fehlt. Ich begreife gar nicht, dass viele Menschen die Zeit, die ich mit Büchern verbringe, anderem widmen können als diesen aussergewöhnlichen Werken, die das reale Leben kunstvoll verwandeln und uns in erfundene Wirklichkeiten versetzen. Tun Bücher dies jedoch nicht, braucht man sie gar nicht erst weiterzulesen. Doch viele von ihnen regen meinen Lesehunger an und lassen mich den Punkt suchen, wo die Wirklichkeit lediglich der Ausgangspunkt ist zur Erkundung von Himmel oder Hölle. Denn ein Roman bietet alles, um unsere Einbildungskraft zu entfachen. Dazwischen bringen wir uns mit Konzerten und Opern auf den neusten Stand des musikalischen Geschehens. Als das Festival gegründet wurde, konzentrierte sich das Programm vor allem auf Mozart (schliesslich wurde er in dieser Stadt geboren) und Richard Strauss. Dank der Vision Herbert von Karajans, der mehrere Jahrzehnte die Festspiele dominierte, wurde das Repertoire ausgeweitet und internationalisiert. Diese Tradition dauert bis heute fort. Auf den Wegen der Phantasie Musik und Bücher sind der Inbegriff des Glücks, und sie sind ein einfaches, für die meisten Menschen erreichbares Vergnügen. Die zwei Wochen, die wir in Salzburg verbringen, entschädigen uns für all die Entbehrungen und schlechten Zeiten des restlichen Jahres, denn sie sind den von Menschen geschaffenen reinen Unwirklichkeiten und Illusionen gewidmet. Mit ihnen entfliehen wir der schmutzigen und falschen Zeit und stossen dank solchen Träumen in reichhaltigere und gehaltvollere Bereiche vor als jene des Alltags. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Land, in dem man viel liest, eine stärker verankerte Demokratie besitzt als Länder, in denen Romane geringgeschätzt werden, als wären sie ein minderwertiges Genre. Was für ein Unsinn. Es gibt nichts Klügeres, als den Wegen der Phantasie zu folgen, denn sie haben uns zu den grossen Erfindungen geführt. Wären wir ihnen nicht gefolgt, würden wir noch immer den Lendenschurz tragen und wilde Tiere jagen. Dank der Literatur haben sich die Menschen weiterentwickelt, sie war das Vehikel, um die Grenzen des Bewusstseins zu erweitern. Auch Musik ist selbstverständlich ein Mittel der Phantasie. In Salzburg gehört in meiner Vorstellung beides zusammen: Es ist nicht nur ein Musik-, sondern in gewisser Weise auch ein Literaturfestival, denn gute Konzerte regen zu guter Lektüre an. Vielleicht lese ich deshalb so viele Romane, wenn ich dort bin. Die Literatur ist eine Inspirationsquelle, auf die die Menschen in trüben oder Krisenzeiten immer wieder zurückkommen, denn Bücher können helfen. So wie das Buch, das ich gerade lese, Giuliano da Empolis «Der Magier im Kreml». Der Roman untersucht das Verhältnis zwischen Wladimir Putin und seinen Untergebenen, in jenem Paradies, das der russische Präsident mittels Terror geschaffen zu haben glaubt. In Salzburg stellt man fest, dass Lesen keine Zeitverschwendung ist, wie viele Menschen zu denken scheinen. Diese funkelnden und wunderbaren Geschichten wecken in unserer Vorstellung Träume, wie sie auch die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen nähren und damit das Verlangen nach Veränderung. Gleichzeitig wächst an diesem Ort die Sehnsucht nach den noch ungelesenen Büchern. So gäbe es nichts Schöneres, als pausenlos lesen zu können, auch wenn ich nicht in Salzburg bin. Denn Romane lassen uns immer ein Stück über das Nächstliegende hinausdenken. Wieder fern vom Paradies Wenn ich nicht lese oder Musik höre, spaziere ich durch diese Stadt, deren historisches Zentrum sich seit Mozarts Zeiten kaum verändert zu haben scheint. Auf gewisse Weise ist sie ein Museum, in dem alle sich verhalten, als trügen sie noch Stiefel und bewegten sich auf Pferden statt in Autos fort. Die Touristen kommen in Scharen auf der Suche nach einer Illusion, die Menschen wie ich in den Romanen finden. Dann sieht man sie in den Lokalen und Strassencafés, die stets auf eine Art ordentlich und sauber sind, die für uns einer Strafe gleichkäme. Doch Ordnung scheint der Lebenssinn dieser Menschen zu sein, die sich die Modernität zunutze machen, ohne auf die alten Gepflogenheiten zu verzichten. Die Besucher lieben diese Anachronismen so sehr, dass sie sie am liebsten auch bei sich zu Hause wiederholt sähen. Die letzten Wochen, in denen ich eine phantastische Inszenierung von Verdis Oper «Macbeth» und zum ersten Mal Berlioz’ monumentale Oper «Les Troyens» gesehen habe, sind zum Leidwesen aller, die in diese Ecke Österreichs gekommen sind, zu Ende gegangen. Nun dauert es fast ein Jahr, bis es wieder so weit ist und erneut die Zeit mit ihrer Fülle an guter und schlechter Literatur beginnt, mit Büchern, die sich durch ihre Titel von anderen abheben und nur darauf warten, in diesen stillen Tagen verschlungen zu werden. Ja, verschlungen, das ist der treffende Ausdruck. Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa wurde 1936 in Peru geboren und lebt seit bald drei Jahrzehnten in Madrid. © Mario Vargas Llosa, 2023. – Aus dem Spanischen übersetzt von Carsten Regling.