Tuesday, September 12, 2023
Jetzt stoppt Deutschland die freiwillige Migrantenaufnahme aus Italien
WELT
Jetzt stoppt Deutschland die freiwillige Migrantenaufnahme aus Italien
Artikel von Marcel Leubecher •
11 Std.
Deutschland zieht Konsequenzen aus dem Kurs Italiens in der Migrationspolitik: Innenministerin Faeser (SPD) stoppt den freiwilligen „Solidaritätsmechanismus“ und setzt Auswahlverfahren für Migranten in Italien aus. Hintergrund ist eine Blockade der Regierung Meloni.
Deutschland hat die freiwillige Migrantenaufnahme aus Italien ausgesetzt. Wie WELT aus Kreisen der deutschen Innenbehörden erfuhr, wurden die Auswahlprozesse für dort ankommende Asylsuchende im Rahmen des „freiwilligen Solidaritätsmechanimus“ eingestellt und dieser Schritt Rom in einem Brief mitgeteilt.
Das Bundesinnenministerium erklärt auf WELT-Anfrage: Vor dem Hintergrund des „hohen Migrationsdrucks nach Deutschland“ und der „anhaltenden Aussetzung von Dublin-Überstellungen“ sei „Italien Ende August darüber informiert“ worden, dass die Auswahlprozesse von Migranten für die Umverteilung „bis auf Weiteres verschoben“ würden. Bereits von der deutschen Seite in der Vergangenheit bestätigte Migranten würden aber „weiterhin übernommen“.
Hintergrund der Aussetzung ist nach WELT-Informationen die anhaltende Weigerung Italiens, sogenannte Dublin-Überstellungen aus Deutschland zu ermöglichen. Nach dem geltenden EU-Asylrecht sollen Asylsuchende, die unerlaubt in einen anderen Mitgliedstaat weiterziehen, in der Regel wieder in den Erst-Einreisestaat zurückgebracht werden. Das funktioniert ohnehin selten, seit einem dreiviertel Jahr blockiert Italien aber vollständig.
In einem WELT vorliegenden Schreiben vom 5. Dezember 2022 aus Rom an die übrigen EU-Mitglieder heißt es: „Aus plötzlich aufgetauchten technischen Gründen, die mit fehlenden Aufnahmekapazitäten zusammenhängen“, werden „Überstellungen nach Italien ab morgen zeitlich befristet storniert“. Diese „zeitliche Befristung“ dauert bis heute an.
Bei dem nun ausgesetzten „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“, handelt es sich um ein maßgeblich von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorangetriebenes temporäres Verteilungsprojekt. Sie setzte es im Juni vergangenen Jahres gemeinsam mit ihrem französischen Kollegen auf EU-Ebene durch. 10.000 Migranten sollten aus den Hauptankunftsstaaten, vor allem dem besonders belasteten Italien, in möglichst viele aufnahmewillige Staaten ausgeflogen werden, 3500 der Menschen nach Deutschland. Anschließend, so Faesers Ziel, sollte sich dieses Pilotprojekt zu einer dauerhaften Verteilung innerhalb der EU weiterentwickeln.
Nachdem sich nur wenige Staaten in merklichem Umfang an dem Pilotprojekt beteiligen wollten, wurde die Gesamtzielmarke auf 8000 Migranten gesenkt. Laut Angaben der EU-Kommission gegenüber „Brussels Signal“ sollen bis August 2023 erst rund 2500 Personen insgesamt im Rahmen des Mechanismus verteilt worden sein, vor allem nach Deutschland und Frankreich. Das Bundesinnenministerium teilt mit, Deutschland habe bisher 1700 Personen aufgenommen.
Die legale Umverteilung aus anderen EU-Staaten – etwa über den „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“, die „Relocation“ von aus Seenot geretteten Bootsmigranten oder das schon abgeschlossene Aufnahmeprogramm zur Entlastung der griechischen Inseln – ist zahlenmäßig kein bedeutender Faktor für die Zuwanderung nach Deutschland. Das Gros der Schutzsuchenden reist unerlaubt aus den sicheren Nachbarländern ein. Deutschland ist seit 2012 durchgängig das Hauptziel von Asylbewerbern in Europa, im laufenden Jahr wurden schon mehr als 200.000 Asylerstanträge gestellt.
Legale Umverteilung als Kernprojekt der Ampel
Trotz der nun gestoppten Aufnahme aus Italien hält die Ampel-Regierung aber grundsätzlich an ihrem Ziel fest, mehr Schutzsuchende aus den Ankunftsstaaten im Süden des Kontinents nach Deutschland und möglichst viele andere EU-Staaten umzuverteilen.
In den Verhandlungen für die EU-Asylreform tritt die deutsche Regierung für eine stärkere legale Umverteilung ein. Im Gegenzug soll die unerlaubte, aber kaum behinderte Weiterwanderung aus anderen EU-Ländern in die Bundesrepublik reduziert werden. Allerdings sind nach dem aktuellen Verhandlungsstand der Reform keine echten Sanktionen gegen die unerlaubt Weitergezogenen, etwa ein ausschließlicher Bezug von Sachleistungen bis zur Rückkehr, vorgesehen.
Heute wird Deutschland in der Regel nach sechs Monaten für einen Asylsuchenden, der schon in einem anderen Staat registriert wurde, zuständig, falls keine Dublin-Überstellung gelingt. Die Ampel setzt sich in Brüssel dafür ein, diese Überstellungsfrist auf zwölf Monate auszudehnen. Falls also künftig ein Flüchtling illegal weiterzieht, müsste er doppelt so lange warten, bis das Verfahren auf Deutschland übergeht. Damit dies seltener als heute der Fall ist, sollen die Dublin-Überstellungen nach dem Willen der Ampel-Regierung sowie der EU-Kommission beschleunigt werden.
Nach den seit 2018 stattfindenden freiwilligen Umverteilungsprojekten könnte mit der kommenden EU-Asylreform der Einstieg in die verpflichtende Umverteilung umgesetzt werden. Damit könnte sich ein seit einigen Jahren langsam ablaufender Wandel der deutschen EU-Migrationspolitik beschleunigen. Deren Prinzip kann so beschrieben werden: Man akzeptierte zwar die jährlich hunderttausendfache unerlaubte Weiterreise von Asylbewerbern aus anderen EU-Staaten mehr oder weniger und holte nahe Angehörige von schon in Deutschland lebenden Migranten aus anderen europäischen Staaten; aber man flog keine zusätzlichen Personen aus anderen EU-Ländern ein, für die man nicht zuständig war.
Obwohl Deutschland seit vielen Jahren durchgängig mehr Asylzuwanderer aufnimmt als die Erstankunftsstaaten an den Küsten Europas, lässt die Ampel-Regierung seit Amtsantritt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es ihr mit dem Ausbau der Umverteilung ernst ist. Ministerin Faeser sagte schon im Januar 2022 zu Beginn der Regierungszeit, sie werde eine „Koalition der Willigen“ schmieden. „Wir sind bereit, auf dem Weg zu einem funktionierenden EU-Asylsystem mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten voranzugehen.“ Doch im Falle Italiens sendet Deutschland nun ein Signal des Unwillens.