Thursday, September 14, 2023
„Affront“ – Tunesien lässt EU-Abgeordnete nicht ins Land
WELT
„Affront“ – Tunesien lässt EU-Abgeordnete nicht ins Land
Artikel von Vanessa Nischik, Tim Röhn •
1 Std.
Eine EU-Delegation wollte sich nach der Verkündung eines Migrationsdeals mit Tunesien ein Bild über die Lage vor Ort machen. Doch daraus wurde nichts. Nun ist die Verärgerung groß – und Rufe nach einer Aufkündigung des Deals werden laut.
Die tunesische Küstenwache fängt kleine Boote mit Migranten ab, die versuchen, das Mittelmeer zu überqueren Khaled Nasraoui/dpa
Die Planungen waren längst abgeschlossen, am heutigen Donnerstag sollte es losgehen: Sieben Wochen nach der Verkündung des EU-Tunesien-Deals durch die Kommission wollten sich fünf Abgeordnete des EU-Parlaments in Tunesien ein Bild über die Lage vor Ort machen. Die Themen: Migration, Demokratie, die wirtschaftliche Lage in dem nordafrikanischen Land. Es war ein Besuch, der von Beginn an unter keinem guten Stern stand: Die tunesische Regierung hatte Treffen mit der Delegation abgelehnt, den EU-Politikern blieb also nur der Austausch mit Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft.
Doch nicht einmal das war am Ende möglich. In einem WELT AM SONNTAG vorliegenden Schreiben des Außenministeriums vom Mittwoch wird der Gruppe mitgeteilt, dass die Delegation „nicht autorisiert sei“, nationales Territorium zu betreten. Gleichzeitig, so heißt es fast zynisch, wolle man die Gelegenheit nutzen, den Einreisewilligen „erneut eine hohe Wertschätzung zu versichern“.
Der tunesische Außenministerium teilt in diesem Schreiben mit, dass die Delegation „nicht autorisiert sei“, nationales Territorium zu betreten WeLT
Der SPD-Abgeordnete Dietmar Köster übte im Gespräch mit WELT AM SONNTAG scharfe Kritik. „Ein solcher Umgang ist zwischen demokratischen Staaten absolut unüblich. Das ist ein Affront, der inakzeptabel ist“, sagte er. Und weiter: „EU-Abgeordnete müssen die Möglichkeit haben, von der Kommission getroffene Absprachen vor Ort überprüfen zu können.“ Das sei mit Blick auf den Deal mit Tunesien ganz offensichtlich nicht der Fall: „Damit ist jede Grundlage für die Vereinbarung entfallen. Sie muss gekündigt oder zumindest auf Eis gelegt werden. Ursula von der Leyen (Kommissionspräsidentin, Anm. d. Red.) muss sofort Abstand davon nehmen.“
Mitte Juli hatte von der Leyen in Tunis im Beisein des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Tunesiens Staatspräsident Kais Saied eine Absichtserklärung über eine „strategische und umfangreiche Partnerschaft“ unterzeichnet. Einer der wichtigsten Punkte war die stärkere Zusammenarbeit beim Thema Migration. So will die EU-Kommission etwa für Such- und Rettungsaktionen sowie die Rückführung von Migranten rund 100 Millionen Euro bereitstellen.
Die angekündigte Summe ist etwa dreimal höher als die, mit der das Land zuletzt durchschnittlich pro Jahr finanziell unterstützt wurde. Insgesamt könnten – je nach Einhaltung der Auflagen – bis zu einer Milliarde Euro nach Tunis fließen. Vorab sei bereits ein Fünf-Punkte-Plan ausgearbeitet worden. Der beinhaltete neben der Kooperation beim Thema Migration eine Zusammenarbeit im Hinblick auf Bildung, Förderung der tunesischen Wirtschaft, Investitionen in erneuerbare Energien und grundsätzlich eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Erst am Mittwoch hatte von der Leyen vor dem EU-Parlament mit Blick auf die zukünftige Asylpolitik betont, eine Einigung liege „in greifbarer Nähe“. Von der Leyen warb für Partnerschaften mit afrikanischen Ländern – und zwar nach dem Vorbild des jüngst geschlossenen Pakts mit Tunesien.
Das Land ist zu einem wichtigen Durchreiseland für Migranten geworden, die nach Europa wollen. In den vergangenen Tagen kamen – trotz des EU-Deals – Tausende Menschen per Boot von Tunesien aus auf die italienische Insel Lampedusa; nie war der Andrang dort so groß, der Bürgermeister rief den Notstand aus. Auch diese Thematik stand auf der Agenda der Abgeordneten.
Der französische Gründen-Abgeordnete Emmanuel Maurel – ebenfalls Delegationsmitglied – schrieb bei „X“, er sei über das Einreiseverbot erschüttert: „Die europäischen Staats- und Regierungschefs dürfen diese Entscheidung nicht unbeantwortet lassen.“