Wednesday, July 5, 2023
"Früher habe ich die Grünen gewählt. Jetzt bin ich schon fast bei der AfD"
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"Früher habe ich die Grünen gewählt. Jetzt bin ich schon fast bei der AfD"
Artikel von Florian Harms • Vor 6 Std.
"Früher izungskeller: Das Heizungsgesetz hat viel Unmut heraufbeschworen. (Quelle: Christian Charisius/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wohl noch nie in der deutschen Geschichte haben die Bürger so viel kommuniziert wie heute – trotzdem haben viele den Eindruck, dass sie einander immer weniger verstehen. Wir stieren alle paar Minuten aufs Smartphone, jagen Kurznachrichten durchs Netz, klicken hierhin und dorthin, saugen Fernsehen und Videos auf, kommentieren und chatten – und reden dabei anscheinend immer öfter aneinander vorbei. Die permanente Kakophonie überdröhnt Einzelstimmen. Umso größer ist das Erstaunen, wenn sich eine unterschwellige gesellschaftliche Entwicklung plötzlich zum Trend aufschwingt.
Das Erstarken der AfD hat in Politik und Medien einen Aufschrei ausgelöst, der zwischen Empörung und Verwunderung schwankt. Der erste AfD-Landrat in Thüringen, der erste AfD-Bürgermeister in Sachsen-Anhalt, die steigenden Umfragewerte für die Partei und das selbstbewusste Auftreten der blauen Frontleute verschieben die politischen Gewichte. Die Strategen in den anderen Parteizentralen sehen sich gezwungen, ihren bisherigen Kurs infrage zu stellen: War es womöglich falsch, die AfD so lange auszugrenzen und zu ignorieren? Hauptstadtjournalisten, sonst um keine schnelle Antwort verlegen, ringen in ihren Twitter-Blasen um Fassung. Und nun auch das noch: Gestern Abend hat das Bundesverfassungsgericht den Hauruckbeschluss des Heizungsgesetzes im Bundestag gestoppt. Es ist die nächste Klatsche für die Ampelregierung, kommentiert mein Kollege Peter Schink.
Auch in der Redaktion von t-online diskutieren wir über die jüngsten AfD-Erfolge. Für uns ist die Entwicklung besonders relevant, da wir im Unterschied zu fast allen anderen Medien Leserinnen und Leser in ganz Deutschland haben: in Städten und auf dem Land, im Norden, Osten, Westen und Süden, unter Jungen und Alten, in praktisch allen Milieus und politischen Lagern. Unsere Reporter berichten aus Landkreisen, in denen die AfD besonders stark ist. Unsere Kolumnisten analysieren die politische Verschiebung. Unsere Redakteure befragen Demoskopen, Soziologen und Politologen. Unsere Rechercheure decken die rechtsextremistischen Verstrickungen von AfD-Kadern auf. Alles aufschlussreich.
Dennoch habe ich den Eindruck, dass in vielen Erklärungen eine Leerstelle bleibt. Und ich frage mich: Warum reden wir so viel über die AfD, aber so wenig mit den Leuten, die mit der AfD sympathisieren? Wäre es nicht angebracht, zunächst einmal zuzuhören, was diese Menschen zu sagen haben, bevor wir unsere Urteile fällen? Dieser Gedanke ging mir durch den Kopf, als ich die Zuschrift eines Tagesanbruch-Lesers las, der unsere Berichterstattung kritisierte. Also griff ich zum Telefonhörer und rief ihn an. Und das hat mir Dietmar Bonkowski, 67-jähriger Rentner aus Zwickau, erzählt:
"Ich mache mir große Sorgen um unser Land. Früher habe ich mich selbst politisch engagiert. In der DDR war ich in den Jahren 1977 bis 1980 in der SED, weil ich etwas verändern wollte. Ich habe aber bald gemerkt, dass das in dem System nicht ging, daher bin ich wieder ausgetreten. In der Wendezeit war ich einer der Sprecher im Neuen Forum in Zwickau.
Jahrelang habe ich dann die SPD oder die Grünen gewählt, aber jetzt kann ich das einfach nicht mehr. Die grüne Politik ist so grottig geworden. Die machen einfach zu viele Fehler! Mit dem Heizungsgesetz und dem außenpolitischen Kurs führen sie unser Land in die Unsicherheit. Ich dachte immer: AfD kannste doch nicht wählen! Aber jetzt bin ich fast so weit. Es muss sich doch endlich mal was ändern in unserem Land! Natürlich sind bei der AfD auch stramme Rechte dabei, mein Eindruck ist aber: Die sind da längst nicht alle rechts. Die AfD ist die einzige Partei, die die offensichtlichen Probleme klar anspricht. Das heißt noch gar nicht, dass sie die Probleme auch lösen könnte, wenn sie selbst an der Regierung wäre. Aber wenigstens sagt sie, was falsch läuft, statt alles schönzureden.
Ich sage immer überspitzt: Hier im Osten sind wir aus der sozialistischen Einheitsfront in die kapitalistische Einheitsfront gewechselt. Es geht überall nur noch ums Geld – aber viele wollen gar nicht mehr wirklich dafür arbeiten. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe 47 Jahre lang hart gearbeitet. Ich war Zerspanungsmechaniker, auch viel auf Montage im Ausland: in Europa, Asien, Australien und Lateinamerika. Arbeit tut weh! Nur, wenn man das mal selbst erlebt hat, kann man die Probleme wirklich verstehen. Bei den heutigen Grünen sehe ich da niemanden. Da sind doch kaum noch Leute dabei, die mal richtig hart gearbeitet haben – also nicht mit dem Kugelschreiber am Schreibtisch, sondern mit Werkzeug in der Produktion.
Auch der Journalismus in Deutschland ist mir oft zu systemnah. Die politischen Entscheidungen werden zu oft verteidigt, statt sie wirklich kritisch zu hinterfragen. Ein Beispiel ist der deutsche Kurs im Russland-Ukraine-Krieg: Dass sich die Ukrainer selbständig machen wollen, ist natürlich verständlich. Dass der russische Angriff schrecklich ist, ist auch klar. Aber dieses tägliche Blutvergießen und die vom Westen unterstützte Eskalationsspirale sind doch Wahnsinn! Sie führen nur dazu, dass Ukrainer und Russen nie wieder miteinander werden reden können – und wir nicht mehr mit den Russen.
Da schlagen sich zwei Völker für zwei Politiker, die nur Macht und Geld treibt. Und wir in Europa lassen uns vor den Karren spannen und werden in den Schlamassel hineingezogen. Die Russen von der Krim vertreiben zu wollen, ist unrealistisch und gefährlich. Warum kann man nicht jetzt eine Verhandlungslösung anbahnen, bei der man den Russen eben zugesteht, dass sie einen Teil der Ukraine vorübergehend besetzen dürfen, so bitter das auch ist? Wir haben doch viel drängendere Probleme zu lösen! Wie wollen wir denn das Klima retten, wenn wir in Europa aufeinander schießen? Das ist meine Meinung."
Ich ahne: Nun wird es viele Leser geben, die Herrn Bonkowskis Ansichten verurteilen. Und andere, die Verständnis dafür aufbringen oder ihm sogar zustimmen. Ob Sie sich zum einen Lager zählen oder zum anderen, ist womöglich gar nicht entscheidend. Wichtiger ist doch, dass wir hierzulande wieder mehr miteinander als nur übereinander reden. Frei nach dem alten Sprichwort: Reden ist Silber, Zuhören ist Gold.
"Früher habe ich die Grünen gewählt. Jetzt bin ich schon fast bei der AfD"
"Früen Menschen fällt es viel leichter, nicht zuzuhören als nicht zu reden."
Gut drei Jahre ist es her, dass das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt hat. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse auch die Freiheit, "hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen", betonten die Richter damals. Zugleich forderten sie das Parlament auf, ein neues Gesetz zu erlassen – und lösten heftige Diskussionen über die feinen juristischen Unterschiede zwischen assistiertem Suizid sowie aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe aus.
Wenn heute der Bundestag über eine Neuregelung der Suizidhilfe entscheidet, stehen zwei Gesetzentwürfe fraktionsübergreifender Gruppen zu Wahl. Die erste, konservativere Initiative stammt von Abgeordneten um Lars Castellucci (SPD) und Ansgar Heveling (CDU). Ihr Entwurf sieht vor, dass Suizidassistenz weiter grundsätzlich strafbar ist, unter bestimmten Voraussetzungen aber erlaubt wird. Die liberalere Variante kommt von Parlamentariern um die Grünen-Politikerin Renate Künast und die FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr. Sie schlagen vor, dass Ärzte Volljährigen Arzneimittel zur Selbsttötung verschreiben dürfen, wenn diese ihr Leben "aus autonom gebildetem, freiem Willen" beenden möchten. Weil es bei der Frage im wahrsten Sinne um Leben und Tod geht, ist der ansonsten übliche Fraktionszwang im Bundestag aufgehoben. Und weil jeder von uns irgendwann in eine Situation kommen könnte, in der so ein Gesetz relevant wird, sollten Sie diesen Erklärtext meines Kollegen Tobias Eßer lesen.
Wachsende Allianz
Eigentlich wollte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sein Amt längst abgegeben haben. Doch wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine bei gleichzeitiger Uneinigkeit der Europäer über seine Nachfolge hängt der 64-jährige Norweger noch mal ein Jahr dran. Wenige Tage vor dem Nato-Gipfel in Litauen unternimmt der Sozialdemokrat heute einen neuen Versuch, seine derzeit kniffligste Aufgabe zu lösen: die Türkei zur Aufgabe ihrer Blockade eines schwedischen Beitritts zu bewegen. Auf seine Einladung kommen Vertreter aus Schweden, der Türkei und Finnland ins Hauptquartier nach Brüssel, darunter die Außenminister, Geheimdienstchefs und nationalen Sicherheitsberater. Wahrscheinlicher als ein schneller Durchbruch ist jedoch, dass es in der kommenden Woche am Rande des Nato-Gipfels noch einmal Gespräche mit Recep Tayyip Erdoğan braucht. Wir werden berichten.
Ich wünsche Ihnen einen standfesten Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online