Wednesday, July 5, 2023
Deutschland erlebt seine schleichende Erosion
WELT
Deutschland erlebt seine schleichende Erosion
Artikel von Jan Klauth, Philipp Vetter • Vor 13 Std.
Wirtschaft und Politik warnen vor einer langsamen Deindustrialisierung. Doch die Mahnungen kommen bei den Wählern kaum an. Das liegt daran, dass ein Krisen-Indikator der Vergangenheit bislang nicht anschlägt. Der Grund dafür ist jedoch keineswegs beruhigend.
Als Jens Spahn an einem Mittwochmorgen im Juni über die Wirtschaft sprechen will, kommen keine zehn Journalisten in den Reichstag. Die Musik spielt im politischen Berlin gerade ganz woanders: Die Ampelparteien haben am Abend zuvor wieder einmal einen angeblichen Durchbruch in ihrem Streit ums Heizungsgesetz verkündet. Wen interessiert da das wirtschaftspolitische Programm der CDU, über das der frühere Gesundheitsminister sprechen will?
Dabei beschreibt Spahn eine „sehr, sehr schwierige wirtschaftliche Lage“: Deutschland sei auf dem Weg, wieder der „kranke Mann Europas“ zu werden. Fast ein Vierteljahrhundert ist es her, dass die britische Zeitschrift „The Economist“ das Land so bezeichnete.
Das war vor den Hartz-Reformen, Gerhard Schröder war gerade erst Bundeskanzler geworden, und die Zahl der Arbeitslosen lag bei weit über vier Millionen. So schlimm soll es wieder um die Wirtschaft des Landes stehen? Die Journalisten interessieren sich in ihren Fragen jedenfalls eher für Gasheizungen und Wärmepumpen.
Deutschland steckt in einer Krise, die anders ist als frühere, eine verdeckte, vor der man viel besser den Kopf in den Sand stecken kann. Klar, gewachsen ist die Wirtschaft in den Corona- und Energiekriegsjahren kaum, und die hohe Inflation nagt an der Kaufkraft. Aber das wird sich schon wieder ändern. Oder?
„Das Herausfordernde ist, dass das auf dem Arbeitsmarkt – wenn überhaupt – zeitlich sehr verzögert zu sehen sein wird“, sagt Spahn. „Das macht es deutlich schwerer auch in der politischen Kommunikation, eine Wahrnehmbarkeit, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass gerade jeden Tag Standortentscheidungen gegen Deutschland getroffen werden.“
Viele Warner
Spahn ist keineswegs der Einzige, der vor einer mindestens schleichenden Deindustrialisierung warnt. Vom Bundesverband der Deutschen Industrie bis zu Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) reicht die Reihe der Mahner.
Doch die Warnungen scheinen bei den Wählern nicht wirklich anzukommen. Ganz nach dem Motto: So schlimm wird es schon nicht werden. Schließlich können ja immer noch jede Menge Jobs nicht besetzt werden.
„Die wirtschaftliche Krise, deren dramatisches Ausmaß uns aktuell täglich durch neue Zahlen und Statistiken vorgeführt wird, ist anders als viele vorherige Krisen“, sagt die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, WELT. „Der typische Anstieg der Arbeitslosenzahlen, der bislang als Weckruf und Krisenindikator galt, bleibt aus.“ Das liege am Fachkräftemangel, der bisher dafür sorge, dass die Produktionsverlagerungen noch nicht sichtbar auf dem Arbeitsmarkt ankommen.
Der VDA hat gerade eine Umfrage unter den deutschen Autozulieferfirmen gemacht. Das Ergebnis ist erschütternd: Kein einziges Unternehmen will demnach seine Investitionen in Deutschland erhöhen, mehr als jede vierte Firma (27 Prozent) gibt an, eine Investitionsverlagerung ins Ausland zu planen. Und das in Deutschlands Schlüsselindustrie.
„Während wir in Sachen Forschung und Entwicklung führend sind, erfolgt die Umsetzung der Innovationen, inklusive der Ansiedlung entsprechender Jobs immer häufiger im europäischen Ausland oder in den USA“, sagt Müller. „Im Klartext heißt das: Die Krise setzt sich nicht nur fort und fest, sondern hinterlässt langfristige und bleibende Konsequenzen, die sich erst nach und nach zeigen und greifbar werden.“
Die Politik sei deshalb gefordert, „den Ernst der Lage zu erkennen und mit aller Kraft gegenzusteuern“, fordert sie. „Uns droht eine schleichende Erosion, mit erheblichen Konsequenzen für Beschäftigung, Wachstum und Wohlstand in Deutschland.“ Die Bundesregierung müsse deshalb endlich konkrete Maßnahmen ergreifen, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts wieder herzustellen.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, beschreiben den Arbeitsmarkt bisher jedoch wahlweise als „robust“ oder „stabil“. Nahles sprach bei der Vorlage der neuen Beschäftigungsdaten am Freitag zwar von Vorsicht. Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland stieg im Juni im Vergleich zum Mai um 11.000 auf 2,555 Millionen.
Arbeitslosenquote weiter niedrig
Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Dennoch unterscheidet sich ihre wie auch Heils Kommunikation deutlich von den Untergangswarnungen, die aus der Wirtschaft zu hören sind. Die Arbeitslosenquote liegt unverändert bei 5,5 Prozent und will nicht so recht zu den Krisenszenarien passen. Sind die Warnungen also übertrieben? Ist es nur das übliche Lobby-Geklapper?
Die Ökonomen des Ifo-Instituts erwarten sogar noch eine Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen. „Deutschland erreicht 2024 den Zenit der Zahl an Menschen, die dem Arbeitsmarkt zu Verfügung stehen“, sagt Sebastian Link, der für das Institut forscht. „Ab dann gehen mehr Beschäftigte in Rente als durch Nachwuchs und Migration nachkommen.“
Die Konjunktur und die Arbeitslosenquote entkoppelten sich hierzulande zunehmend, sagt Link. „Mit der Demografie der 80er- und 90er-Jahre wäre der Einbruch auf dem Arbeitsmarkt deutlich härter. Werte von zehn Prozent Arbeitslosigkeit und mehr wird es heute nicht mehr geben.“
Schon in der Corona-Krise habe sich der demografische Wandel bemerkbar gemacht. Der Spitzenwert der Arbeitslosenquote lag damals bei 6,5 Prozent. Zum Vergleich: Ende der 1990er-Jahre erreichte die Arbeitslosigkeit mit zeitweise mehr als zwölf Prozent den bisherigen Höchstwert.
Heute hingegen ist das Risiko, langfristig arbeitslos zu werden, trotz der Krise eher niedrig, wie Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erklärt. Wer seinen Job verliert oder kündigt, findet noch immer schneller eine neue Anstellung als früher – zumal Unternehmen qualifizierte Beschäftigte sogar regelrecht horten, statt wie in früheren Krisen reflexhaft mit Stellenabbau zu reagieren. Und: Bis 2035 droht der Arbeitsmarkt weitere sieben Millionen Menschen zu verlieren, die Lücke könnte also noch größer werden.
Man könnte also fragen, wo das Problem liegt, wenn Jobs ins Ausland abwandern, die man in Deutschland ohnehin nicht besetzen kann. Doch in der Industrie geht die Angst vor dem „Rutschbahn-Effekt“ um: Verhindert man die Abwanderung jetzt nicht, lässt sie sich später nicht mehr aufhalten. Deutschland wächst nicht mehr, wird abgehängt, und das wird irgendwann auch auf dem Arbeitsmarkt ankommen.
Dass diese Entwicklung bereits begonnen hat, daran lassen Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat keinen Zweifel. Sie vergleicht, wie sich die Industrieproduktion in den europäischen Staaten in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Als Basisjahr dient 2015, zu Beginn der Corona-Krise brach die Produktion überall ein und lag deutlich unter diesem Niveau.
Doch während sich die Werte im Rest der EU schnell wieder erholten und heute im Schnitt acht Prozent über dem Niveau von 2015 liegen, fällt Deutschland zurück. Noch immer verharrt die Industrieproduktion knapp sechs Prozent unter dem Wert von 2015. Die Wertschöpfung findet jetzt anderswo statt.
Der aktuelle Arbeitskräftemangel verstärkt diese Wachstumskrise sogar noch: So meldeten im April dieses Jahres 42 Prozent der Unternehmen eine Behinderung ihrer Geschäftstätigkeit durch fehlendes Personal, wie aus dem aktuellen Fachkräftebarometer des Ifo-Instituts und der Förderbank KfW hervorgeht.
„Auch wenn sich der Anteil durch die Konjunkturabschwächung verringert hat, bleibt es dabei: Die Fachkräfteknappheit hemmt im historischen Vergleich immer noch einen großen Teil der Wirtschaft in Deutschland“, sagt Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW.
Wertschöpfung geht verloren
Wie genau, hat die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Zahlen gefasst: Weil 2023 wohl knapp zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben werden, geht Deutschland eine Wertschöpfung von fast 100 Milliarden Euro verloren. Doch in einigen Bereichen zeichnet sich die Trendwende bereits ab: „Insbesondere in der Industrie spiegelt sich der aufkeimende Pessimismus in zurückhaltenden Personalplanungen“, sagt Klaus Wohlrabe vom Ifo-Institut.
Die Prognosen bleiben paradox: Laut IAB etwa wird die Arbeitslosenquote zwar im laufenden Jahr um 0,1 Prozent steigen. Aber gleichzeitig dürfte auch die Beschäftigung aufgrund der hohen Arbeitskräftenachfrage um 0,9 Prozent zulegen – auf ein neues Rekordhoch. Beste Bedingungen also, um den Kopf noch ein wenig länger im Sand zu lassen.