Thursday, December 5, 2024

Afghanistan-Untersuchungsausschuss: Der Schatten auf Merkels Vermächtnis

ZEIT ONLINE Afghanistan-Untersuchungsausschuss: Der Schatten auf Merkels Vermächtnis Christian Schweppe • 11 Std. • 6 Minuten Lesezeit Angela Merkel muss ihre Buchtour unterbrechen, um vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss auszusagen. Trotz der zurückgelassenen Ortskräfte ließ sie Reue vermissen. Angela Merkel in Berlin vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss Sie sollte in Berlin vor einen Untersuchungsausschuss treten und zu einem Kapitel aussagen, dem ihr dickes Buch gerade knappe elf dünne Seiten einräumt: Afghanistan. Nach zweieinhalb Jahren parlamentarischer Aufarbeitung war nun die Ex-Kanzlerin an der Reihe, zu erklären, warum 2021 derartig wenige Ortskräfte vor den zurückgekehrten Taliban-Terroristen in Sicherheit gebracht werden konnten. Merkel ist die letzte Zeugin. "Mein Name ist Angela Dorothea Merkel" Vorab ließ sich aus ihrem Buch keine große Selbstkritik zur Sache herauslesen. Im Bundestag stellte sich die Altkanzlerin ordentlich vor: "Mein Name ist Angela Dorothea Merkel." Einige Abgeordnete grüßten sie persönlich. "Na, dann schauen wir mal", sagte die Altkanzlerin vor Beginn in einem für den Andrang viel zu kleinen Saal, für den weder der Vorsitzende Ralf Stegner (SPD) noch das Sekretariat angemessenen Ersatz organisiert hatten. Zu Beginn referierte Merkel geschäftsmäßig frühere Vorlagen und Besprechungen. Fast wirkte es so, als sei in Kabul alles nach bester Ordnung abgelaufen – was der wahren Situation keineswegs entspricht. Merkel nannte die besonders bedrohten Menschen aus Afghanistan, die mit ihrer Regierung gearbeitet hatten, "die sogenannten Ortskräfte", ein Wort, das Merkel in ihrem Buch genau einmal benutzt. In ihrer Aussage stellte sie es eingangs als Erfolg dar, dass ihr Kabinett von den Ortskräften damals nicht verlangte, Reisekosten für den Flug nach Deutschland selbst zahlen zu müssen, wie es die ursprüngliche Idee gewesen war. Merkel erwähnte zwei Charterflüge, die kurz vor dem Kollaps am 15. August 2021 noch unkonkret geplant werden sollten, ließ aber unerwähnt, dass man intern wusste, damit viel zu spät dran zu sein. Ihre Verlagswerbung preist Merkels Buch gegenwärtig als "einzigartigen Einblick in das Innere der Macht". Im U-Ausschuss ließ sie in den ersten Stunden nicht wirklich in ihr Innerstes blicken. Etwas neues Licht auf ihren Machtapparat und ihre Regierungsentscheidungen werfen aber vertrauliche Akten des Kanzleramts, die ZEIT ONLINE vorliegen. Sie erhärten das Bild, das auch viele Abgeordnete inzwischen haben: das einer erstaunlich machtlosen Kanzlerin, die am Ende ihrer langen Regierungszeit so wenig Autorität hatte, dass selbst Staatssekretäre im Entwicklungshilfeministerium Ansagen nicht ernsthaft umsetzten. Im Auswärtigen Amt konnte Merkel eben nicht durchsetzen, dass sich frühzeitig ernsthaft um die zivilen Chartermaschinen gekümmert wurde. Im Fokus stand am Donnerstag somit erstmals Merkels Afghanistan-Politik. Die internen Akten dazu belegen, wie sie 2021 monatelang die heraufziehende Krise für ein Thema hielt, das sich am Rande besprechen lasse. "Am Rande ist nicht ausreichend", vermerkten im Verteidigungsministerium genervte Beamte. Dort wurde früh ihre Richtlinienkompetenz gefordert, um den Streit zwischen den Ressorts über die Aufnahme gefährdeter Afghaninnen und Afghanen aufzulösen. Als dann in Kabul alles zusammenbrach und der größte Bundeswehr-Einsatz der Geschichte auch offiziell scheiterte, sorgte sich Merkel offenbar auch, wer nach Deutschland kommen würde. Die Kanzlerin hatte neue Flüchtlingsströme über die Balkan-Route unbedingt verhindern wollen, zeigen Akten. Berlin war ahnungslos über US-Abzugspläne Erstaunlich ist in der Hinsicht eine Buchpassage der Autorin Merkel, in der sie kritisiert, wie unter den US-Präsidenten Trump und Biden der Nato-Abzug ohne Bedingungen vorangetrieben wurde und dafür über die afghanische Regierung hinweg zwischen Taliban und Nato verhandelt worden war. Merkel schreibt dazu die fast hilflosen Sätze: "Das Schicksal des Landes war besiegelt. Jetzt brauchten die Taliban nur noch auf den Abzug zu warten." Fragt sich nur: Wieso hat ihre Regierung dann nach dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens 2020 – mehr als ein Jahr vor der Katastrophe – überhaupt nichts getan für rechtzeitige Evakuierungen? Merkels Aussage in Berlin konnte das nicht überzeugend auflösen. Öffentlich inszeniert sie sich bis heute als Versinnbildlichung der transatlantischen Freundschaft. Doch in Wahrheit war die Regierung in Berlin vor und nach dem Kollaps in Kabul geradezu erzürnt darüber, dass Präsident Biden nicht detailliert über den eiligen US-Abzug informiert hatte. Nur nach außen einigte man sich in der Merkel-Regierung auf die Linie, "kein öffentliches USA-Bashing" zu betreiben. Merkels ignorierte Briefe ZEIT ONLINE konnte vor Merkels Aussage auch persönliche Briefe auswerten. In Merkels Postfach fand sich etwa der eindrückliche Appell eines Afghanen, der der Kanzlerin persönlich schon einen Monat vor der Taliban-Rückkehr schrieb ("WIR BITTEN UM HILFE"). Seinen Schwiegervater hätten sie mit dem Tod bedroht, weil der als Ortskraft gearbeitet habe. In den Akten dazu ist nicht ersichtlich, ob die Kanzlerin zurückgeschrieben hat. Was aus dem Afghanen wurde, ist nicht bekannt, auf Nachfrage ging ihr Büro nicht darauf ein, das gilt für alle Nachfragen von ZEIT und ZEIT ONLINE zu Kabul seit Ende 2023. Auch eine aktuelle Gesprächsanfrage blieb unbeantwortet. Bei einigen Briefen hatte ihr Büro damals gleich vermerkt, dass sie wenig auslösten ("keine Antwort nötig"), sogar Hilfsbitten von Frauenrechtsaktivistinnen. Amnesty International bekam "kein Gespräch im BKamt", wie Merkel in Akten selbst nachlas und freizeichnete. Ex-Bundespräsident Christian Wulff bekam ebenfalls wochenlang keine Antwort auf seinen Brief vom 27. Juli 2021, in dem er darum gebeten hatte, einen Hinweis zu bekommen, wie er helfen könne ("Ich schreibe dir, mit der Bitte um rasches Handeln in Bezug auf einige Ortskräfte in Afghanistan"). Als endlich ein Antwortentwurf vorlag, war Kabul gefallen und das Kanzleramt notierte: "Brief passt nicht mehr zur Lage. Bitte anpassen." Auch ein gewisser Boris Pistorius hatte Merkel als Innenminister von Niedersachsen geschrieben, dass es nicht sein könne, dass man die Ortskräfte nun zurücklasse, denn die hätten "wortwörtlich den Kopf für unser Land hingehalten". Es kam dann genau so: Die Taliban waren zurück und damit sämtliche Ortskräfte in großer Gefahr, ganz so wie es eine vertrauliche BND-Analyse regierungsintern schon im März 2021 festgehalten hatte. Im Sommer 2021, nachdem die notdürftige Militär-Luftbrücke kaum noch Menschen vom Kabuler Flughafen retten konnte, reiste Merkel nach Moskau, zum Abschiedsbesuch bei Präsident Wladimir Putin kurz vor dessen Überfall auf die Ukraine. Auch hierzu gibt es Akten, heikle Gesprächsvermerke: Merkel musste demnach ausgerechnet Putin – der die Taliban mit Geld und Waffen versorgte – darum bitten, bei ihnen sicheres Geleit für ihre Ortskräfte auszuhandeln. Die deutsche Regierung hatte es selbst unterlassen, seit Frühjahr 2020 eine großzügige Rettungsmission einzuleiten. Während des Kollapses in Kabul besuchte Merkel eher unbeirrt eine Filmpremiere, ein Chemie-Labor in Hessen und ein Mitmachmuseum – business as usual. Selbst Merkels früheres Umfeld gesteht ein, dass sie nie eine Freundin der Auslandseinsätze gewesen war und auch nicht des Afghanistan-Abzugs. 16 Jahre trug Angela Merkel Regierungsverantwortung, führte das Land durch viele Krisen. International wird sie bis heute als bravouröse Krisenmanagerin gefeiert. In der Afghanistan-Krise, die sie selbst inzwischen ein "Debakel" nennt, war Merkel das nicht. Als damalige Kanzlerin hat sie das Systemversagen hinter der politisch verschleppten und aktiv unterlassenen Rettung all der Ortskräfte zu verantworten. Wie weit dieses Versagen ging, hatte die ZEIT bereits im Januar enthüllt. Wer an diesem Donnerstag nun mit der Hoffnung in den Ausschuss kam, dass Merkel eine gute Erklärung für viele Missstände mitbringen würde, wurde enttäuscht. Die Altkanzlerin lobte einmal mehr die Bundeswehrleistung bei der am Ende notwendigen militärischen Evakuierung aus Kabul als "außergewöhnlich", stellte sich aber offenbar selbst kaum die Frage, warum diese überhaupt nötig gewesen war. So steht sie für eine Bundesregierung, die ihre Verantwortung in Afghanistan verkannt hat. Die Lage war nicht einfach, das stimmt, Merkel selbst beschrieb es als Dilemma, dass eine frühe Evakuierung vielleicht nach Flucht ausgesehen hätte. Doch am Ende räumte sie ein, die internationalen Ziele im Land seien "zu anspruchsvoll" gewesen. "Das Schlimmste zu verhindern", sei dann ihre Absicht gewesen, "was zum Schluss nicht gelungen ist". Mit den Stunden der Befragung wurde Merkels Nimbus als unerschütterliche Krisenmanagerin merklich kleiner: Manche Kritik blockte sie ab ("nehme ich im Nachhinein zur Kenntnis"), in anderen Punkten räumte sie ein, überrascht gewesen zu sein, etwa von der Flucht des afghanischen Präsidenten ("Ich war nicht vorbereitet am Sonnabend"). Dass es trotz ihres Bemühens als Regierungschefin keine Charterflüge gab, kommentierte sie mit dem achselzuckenden Satz, sie habe jedenfalls ihren "politischen Willen kundgetan". Die Aufnahme von Ortskräften in jenem Sommer sei "nicht überschnell" erfolgt, bilanzierte Merkel noch lakonisch. Am Ende der ersten drei Stunden im Ausschuss sagte sie schließlich einen waschechten Merkel-Satz: "Es ist nicht gelungen, was intendiert war. Damit müssen wir leben." Bis Februar entsteht nun der Kabul-Abschlussbericht, der politische Lehren aus dem Fiasko ziehen soll und mitten in einen Wahlkampf fällt. Die Altkanzlerin, inzwischen 70 Jahre alt, zieht weiter, die Buchtour ruft. Freiheit allerdings, wie es in ihrem Buchtitel heißt, gibt es in Kabul kaum. Äußerlich war Angela Merkel auf der Zeugenbank kaum eine Gefühlsregung anzumerken. Offiziell entschuldigt hat sich somit bei den deutschen Ortskräften bis zum heutigen Tage niemand.