Sunday, December 29, 2024

Psychologin über Nachbarschaft: „Auf dem Land sucht man eher die Gemeinschaft“

Berliner Zeitung Psychologin über Nachbarschaft: „Auf dem Land sucht man eher die Gemeinschaft“ Enno Kramer • 13 Std. • 6 Minuten Lesezeit „Bei der Wahl der Nachbarschaft macht die Frage der Region kaum einen Unterschied: Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen.“ Man schätzt sie, man braucht sie und manchmal nerven sie einen sehr. Kaum jemand in dieser Stadt, der keine Erfahrungen mit dieser besonderen Spezies gemacht hat – gute und weniger gute. Lesen Sie hier den dritten Teil unseres Nachbarschaftsspecials. Ob plärrende Kinder gleich nebenan, Grußlosigkeit im Treppenhaus oder rudimentäre Mülltrennung – Anlässe für nachbarschaftlichen Streit gibt es bekanntlich genug. Doch auch die Vorzüge einer guten Nachbarschaft sind vielfältig: Hier werden die Blumen gegossen, da wird der Hund umsorgt, wenn man im Urlaub ist – dort werden Medikamente vor die Tür gelegt, wenn der ältere Nachbar krank ist und die Wohnung nicht verlassen kann. Die Erfahrungen mit Nachbarschaft sind individuell und völlig unterschiedlich. Für die einen wird die eigene Wohnung durch den wohlgesonnenen Nachbarn zum Rückzugsort und Safe Space, für die anderen durch den missgünstigen Nachbarn zum blanken Horror. Aber wie sieht die optimale Nachbarschaft überhaupt aus, und inwieweit kann sie psychischen Belastungen entgegenwirken – oder diese sogar verursachen? Wir haben mit der Expertin Franziska Kühne über die Vorteile einer gesunden Nachbarschaft gesprochen, über den Unterschied zwischen Wohnen in der Stadt und auf dem Land sowie über die Entwicklung von Nachbarschaften im Allgemeinen. Außerdem ging es darum, was man tun sollte, wenn man sich in seiner eigenen Nachbarschaft nicht mehr wohlfühlt. Frau Kühne, welchen Einfluss kann die Nachbarschaft auf das eigene Wohlbefinden haben? Wohlbefinden ist in erster Linie die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse können sehr unterschiedlich sein. Wenn ich zum Beispiel Kinder habe, geht es um Fragen wie: Sind Spielplätze und ein Kindergarten in der Nähe? Aber auch Supermärkte oder Restaurants in der Nähe spielen eine wichtige Rolle für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Das sind alles Dinge, die beim Wohnen eine viel größere Bedeutung für die eigene Behaglichkeit haben als die Nachbarschaft – die man sich ja in den seltensten Fällen aussuchen kann. Ich würde sagen, die Nachbarschaft wirkt sich vor allem dann auf die Psyche aus, wenn es zu Konflikten kommt. Wie sehen Konflikte unter Nachbarn aus? Zunächst einmal muss man zwischen Nachbarschaften im städtischen und im ländlichen Raum unterscheiden. Da gibt es grundlegende Unterschiede. Aber bleiben wir erst einmal in Berlin: Das können schreiende Kinder sein, zu laute Musik, das kann aber auch ein Nachbar sein, der seinen Müll nicht trennt oder jedes Mal laut die Treppe rauf und runter läuft. Ein solcher Konflikt kann sogar schon entstehen, wenn man jemanden im Treppenhaus trifft und dieser einen nicht grüßt. Inwiefern unterscheidet sich eine Nachbarschaft im urbanen Raum von einer auf dem Land? Allein die Platzfrage spielt eine wesentliche Rolle. Während man in der Stadt eher beengt lebt, kann man sich auf dem Land meist ausbreiten. Außerdem neigt man auf dem Land eher dazu, mit seinen Mitmenschen ein paar Worte zu wechseln. Das wirkt sich positiv auf die Psyche aus. Bei der Wahl der Nachbarschaft hingegen macht die Frage der Region kaum einen Unterschied: Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen. Zwar ist die Wohnungsnot auf dem Land nicht ganz so groß, sodass man hier eher Rücksicht nehmen könnte, aber grundsätzlich ist das Zufallsprinzip die Regel. Was kann man tun, wenn man sich in seiner Nachbarschaft nicht mehr wohlfühlt?Grundsätzlich bin ich nicht in der Position, anderen Menschen zu sagen, was sie tun sollen – und das ist in Berlin natürlich auch leichter gesagt als getan: Aber wenn das nachbarschaftliche Verhältnis dauerhaft angespannt ist, sollte man sich überlegen, ob man sich nicht eine andere Wohnung in der Umgebung sucht. Das sieht man zum Beispiel an der Flüchtlingsunterkunft in Lichtenberg. Dort fühlen sich viele Anwohner gestört und würden wegziehen, wenn sie könnten. Da spielen vor allem Ängste eine große Rolle. Aber wie gesagt: In dieser Stadt ist es nicht so einfach, den Wohnort zu wechseln. Wie sieht die optimale Nachbarschaft aus? Je anonymer, desto besser – oder eher ein fast freundschaftliches Verhältnis?Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich – und von Haus zu Haus. Wenn es zum Beispiel ein Haus ist, in dem viele Einzelgänger wohnen, dann verhalten sich die Nachbarn in der Regel auch so. Man passt sich an. Zieht man dagegen zum Beispiel in ein Haus mit vielen Neuankömmlingen, reagiert man selbst meist kontaktfreudiger. Ein „Guten Morgen“ oder „Alles in Ordnung?“ reicht vielen aus. Ein zu enges Verhältnis zu den Nachbarn kann auch problematisch sein. Hat man sich zum Beispiel schon das eine oder andere Mal um die Katze des Nachbarn gekümmert, steht man sich natürlich sehr nahe. Wenn dieser Nachbar dann plötzlich längerfristig erkrankt, kann das zum Problem werden. Wieso das? Man kann nicht so einfach weggehen wie bei einem Freund, den man besucht. Oft geht man bei Nachbarn dann einfach auf Distanz, was allerdings auch zu Spannungen führen kann. Hinzu kommt, dass viele Menschen heute zunehmend weniger enge Bindungen pflegen, Freunde oder Familie haben, sich um sie kümmern im Ernstfall. Und plötzlich sieht man sich als Nachbar – der sich sonst nur ab und zu um die Katze kümmert – aus Verantwortungsgefühl mit einer besonderen Erwartungshaltung konfrontiert. Solche Situationen kommen häufiger vor, als man denkt. Ähnlich ist es übrigens auch in Wohngemeinschaften, aber das ist wieder ein anderes Szenario. Viele Nachbarn meiden den Kontakt aber auch von sich aus. Warum will der Mensch als soziales Wesen überhaupt anonym bleiben? Haben wir nicht ein natürliches Interesse daran, die Menschen, die uns räumlich nahe sind, kennenzulernen? Im Prinzip haben Sie Recht. Wir Menschen sind gewissermaßen Herdentiere und leben eigentlich von Natur aus in Gruppen. Man könnte also meinen, dass wir das Bedürfnis haben müssten, uns zusammenzutun, um überhaupt überleben zu können. Doch das hat sich im Laufe von vier Millionen Jahren Evolution grundlegend geändert. Seitdem leben wir eher als Einzelgänger, als Singles. Das liegt unter anderem daran, dass wir Menschen festgestellt haben: Wir sterben sowieso – ob in der Gruppe oder allein. Der Kontakt zu den Mitmenschen ist also zu einem Luxusgut geworden. In gewisser Weise. Wenn man heute unter Menschen sein will, muss man nur das Haus verlassen und in einen Club oder eine Bar gehen. Und in einer Nachbarschaft ist es fast wie ein erzwungenes Zusammenleben – wie eine Art Home-Sharing mit Fremden. Das ist alles andere als natürlich. In der Tierwelt zum Beispiel haben Familien und Rudel ihre eigenen Höhlen. Wir Menschen hingegen bauen unsere eigenen Hochhäuser und teilen sie uns mit vielen anderen Menschen – das ist eigentlich wider die Natur. Hochhäuser sind auf dem Land eher die Ausnahme: Würden Sie sagen, dass Isolation und Einsamkeit ein städtisches Problem sind? Da gibt es natürlich kein Schwarz und Weiß. Aber grundsätzlich würde ich dem zustimmen. Auf dem Land sucht man eher die Gemeinschaft. Es kommt seltener vor, dass Menschen alleine leben. Das Gegenteil ist im Prinzip der ideale Nährboden für Isolation und Einsamkeit. Wie hat sich die Bedeutung von Nachbarschaft seit der Pandemie verändert? Ich denke, das konnte jeder in den Medien verfolgen. Vor allem das Thema Nachbarschaftshilfe und Nächstenliebe stand in dieser Zeit im Mittelpunkt und hat viele nachbarschaftliche Beziehungen aufgewertet. Hier wurde der älteren Nachbarin der Einkauf gebracht, dort fuhr man für den kranken Nachbarn zur Apotheke. Aus psychologischer Sicht ist das Helfen für beide Seiten ein positiver Prozess: Es aktiviert positive Gefühle. Irgendwann kann das natürlich auch kippen, sodass man sich abhängig oder schuldig fühlt – aber das mal außen vor. War das eine nachhaltige Entwicklung oder fand das im Zuge der Lockerungen ein Ende? Das war eine sehr kurzzeitige Entwicklung, muss man leider sagen. Es hat kaum ein halbes Jahr gedauert, bis wir wieder zu alten Mustern zurückgekehrt sind. Aber das ist ohnehin nur die eine Seite der Medaille. Jeder kann sich sicherlich auch an die Beispiele erinnern, wo Nachbarn sich gegenseitig denunziert und an den Pranger gestellt haben: „Das sind zu viele Gäste, die die da bei sich haben“, „Die sind zu spät nach Hause gekommen“ – solche Dinge haben damals auch eine Rolle gespielt. Welche Rolle spielt das Thema Nachbarschaft direkt oder indirekt in Ihrer Praxis? Ich habe einige Patienten, mit denen ich regelmäßig über Nachbarschaft spreche. Meistens geht es um Einsamkeit. Ich habe zum Beispiel eine Patientin, die allein in Berlin lebt, während ihre ganze Familie in München wohnt. Als eine Verwandte schwere gesundheitliche Probleme bekam, fühlte sie sich hilflos und vor allem einsam. Viele Menschen finden in dieser Stadt einfach keinen Anschluss und suchen dann den Weg zu mir. Welchen Einfluss kann Nachbarschaft auf Kinder und ihre Erziehung haben? Natürlich einen sehr positiven. In Großstädten ist es heute eher die Ausnahme, aber wenn die Freunde der Kinder nebenan oder über einem wohnen, hat das natürlich einen sehr positiven Einfluss auf die Entwicklung. Heute ist es eher die Regel, dass die Kinder weit voneinander entfernt wohnen und sich dann in der Kita, in der Schule oder in der Freizeit treffen. Das war früher anders. Deshalb spielen die Kontakte in der eigenen Nachbarschaft für die Kinder eine wesentliche Rolle.