Monday, March 11, 2024
Islamforscher: In zehn Jahren gibt es in Frankreich Bürgerkrieg – Warnung an Europas Politiker
Berliner Zeitung
Islamforscher: In zehn Jahren gibt es in Frankreich Bürgerkrieg – Warnung an Europas Politiker
Thomas Fasbender • 20 Std. • 5 Minuten Lesezeit
Ein Demonstrant stellt sich Polizisten in der französischen Stadt Nanterre entgegen. Ende Juni 2023 hatten Polizisten den 17-jährigen Nahel M. erschossen, was landesweit Proteste auslöste.
Realität der Globalisierung und Migration: Eine in Deutschland kaum beachtete Tagung am Kaspischen Meer beschäftigte sich am Wochenende mit einem wichtigen Aspekt der europäischen Zukunft. Es ging um die Angst vor dem Islam, um den Hass auf Muslime, um die von ihnen erlebte Ausgrenzung und Ablehnung.
Dabei bildete die zweite Internationale Islamophobie-Konferenz in der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku natürlich auch – wie könnte es heutzutage anders sein? – geopolitische Bruchlinien ab. Die ausrichtenden Aserbaidschaner versuchten, die religiöse Dimension ihres Konflikts mit dem Nachbarland Armenien zu unterstreichen, die Pakistanis erinnerten an das Schicksal der 200 Millionen Muslime in Indien. Weder aus Indien noch aus dem Iran – für Aserbaidschan kein leichter Nachbar – waren Vertreter nach Baku gekommen.
Die blutige Muslimenverfolgung in Myanmar und die Gängelei der rund 18 Millionen Muslime in China (nicht nur Uiguren) wurden nur am Rande erwähnt. Die eigentliche Stoßrichtung der Experten – Wissenschaftler und muslimische Interessenvertreter aus der ganzen Welt – war der real existierende Liberalismus des säkularen Westens, exemplarisch in Gestalt der laizistischen Französischen Republik.
130 Teilnehmer aus 31 Ländern waren ans Kaspische Meer gereist, darunter namhafte Vertreter des multilateralen interreligiösen Dialogs. Das G20-Interfaith-Forum gehörte zum Kreis der Träger. Die meisten Europäer kamen aus Frankreich und Großbritannien. Deutschland war im Programm einzig durch den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime vertreten, Aiman Mazyek. Der wunderte sich über die geringe deutsche Präsenz, hielt aber den Fokus auf Europa für nicht wirklich überraschend. Formate ohne politische Instrumentalisierung gebe es kaum noch, so Mazyek zur Berliner Zeitung, das gelte für alle Seiten und für alle Themen.
Ein Grund für die deutsche Zurückhaltung kann darin liegen, dass man in Berlin und den Bundesländern (noch) auf Vogel-Strauß- und Symbolpolitik setzt: Ramadan-Beleuchtung in der Fußgängerzone, muslimisch klingende Namen auf den Listenplätzen der Parteien, Sonntagsreden zur alternativlosen Integration – und die Hoffnung, dass eine islamisch motivierte politische Willensbildung, etwa die angestrebte Dava-Partei, an ethnischen und konfessionellen Konflikten scheitert.
Umso mehr lohnt der Blick nach Frankreich, auch wenn der muslimische Anteil dort mit rund zehn Prozent deutlich höher und das säkulare Selbstbewusstsein der Republik deutlich schärfer ist. Die Debatte ist bekannt. Islamistische Terroranschläge und prominente Messermorde einerseits, harsche Anti-Extremismus-Gesetze andererseits. Letztere berühren die Lebensrealität der meisten der rund sechs Millionen französischen Muslime.
Schon in den 1990er-Jahren wurde in französischen Schulen das Tragen auffälliger religiöser Symbole verboten. 2004 folgte ein Kopftuchverbot an Schulen, inzwischen gilt es (außer im Elsass) für alle öffentlichen Gebäude. Seit 2023 sind Schülern auch Abajas und Qamis verboten, die bodenlangen Übergewänder, die bei beiden Geschlechtern beliebt sind. Verboten ist zudem die Vollverschleierung in der Öffentlichkeit, also Niqab und Burka, sowie das Badegewand Burkini. Auch private Unternehmen dürfen Kopftuchverbote erlassen.
Den französischen Muslimen gilt Emmanuel Macron als Vorreiter der harten, laizistischen Linie: konsequente Trennung von Staat und Religion und Begrenzung der Religion auf den privaten Bereich. Bildungsminister Gabriel Attal hält den Schulbesuch in Abaja oder Qami für eine religiöse Geste. Beim Betreten eines Klassenraums, so der Minister, dürfe die Religionszugehörigkeit nicht erkennbar sein. Dem französischen TV-Sender TF1 sagte Attal im vergangenen Jahr: „Der Laizismus bedeutet die Freiheit, sich durch die Schule zu emanzipieren.“
Dieses Doppelideal – Religion als Privatangelegenheit und Freiheit als Emanzipation von Religion – muss mit dem Islam kollidieren. Für den Gläubigen ist die Umma, die islamische Gemeinde oder Öffentlichkeit, der Inbegriff von Glaubenspraxis – und seine Religion der Inbegriff von gelebter Freiheit.
Wie das Miteinander verschiedener Religionen auch aussehen kann, berichtete in Baku Sara Cheikh Husain, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität von Melbourne. Trotz mancher Ablehnung, der Muslime auch in Australien ausgesetzt seien – verglichen mit Frankreich seien die Verhältnisse dort paradiesisch. Bewusst arbeite die australische muslimische Gemeinschaft an der Aufhebung der Trennung von öffentlich und privat. Regelmäßig veranstalteten die Moscheen Tage der offenen Tür, und an Festtagen bete man gemeinsam in öffentlichen Parks.
Trotz der globalen interreligiösen Spannungen – zwischen Muslimen und Hindus in Indien, zwischen Juden und Muslimen in Palästina, zwischen Muslimen und Christen im Südkaukasus – herrschte Konsens dahingehend, dass die Islamophobie nicht in anderen Religionen wurzelt, erst recht nicht in den abrahamitischen „Buchreligionen“. Der Gegner (daher auch Frankreich als „bester Feind“) scheint die westliche Denktradition zu sein, die als bewusste „Befreiung“ des Einzelnen von der Religion verstanden wird. Daran ließ die Vielfalt der Konferenzbeiträge – rund 70 Vortragende in zwei Tagen – kaum Zweifel. Von dieser Erkenntnis bis zur identitätspolitischen Kritik, wonach Maßnahmen wie das Verbot religiöser Symbole nur neokoloniale Versionen westlicher Missionsarbeit sind, ist es nicht weit.
Die Konfrontation scheint jedenfalls programmiert. Mohammed El-Maazouz, Direktor der Europäisch-Arabischen Akademie für Geopolitische Studien in Paris, sieht Islamophobie als Kontinuum französischer Staatsräson seit den Kreuzzügen im 13. Jahrhundert. In den vergangenen Jahren sei das Ausmaß antiislamischer Äußerungen allerdings sprunghaft angewachsen. Wenn die Politik der Europäer sich nicht ändere, so El-Maazouz, „haben wir in zehn Jahren Bürgerkrieg“.
Legt man (wofür einiges spricht) die weitgehende Unvereinbarkeit des säkular-europäischen und des islamischen Selbstverständnisses zugrunde, lässt sich ein Konfliktszenario jedenfalls nicht leugnen. Es wird zwar noch ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe Muslime in den ersten westeuropäischen Ländern die Mehrheit stellen, doch ein Anteil von um die 20 bis 30 Prozent ist spätestens dann realistisch, wenn in gut 20 Jahren die starken Boomer-Jahrgänge wegsterben.
Folgt man dem Londoner Aktivisten Muhammad Abdur Rabbani und seiner Menschenrechts-NGO CAGE, so wächst der muslimische Widerstand gegen die nach seinen Worten „autoritär-totalitäre“ französische Religionspolitik. Sein Wirken hat dem britischen Staatsbürger Einreiseverbote nach Frankreich, Polen und der Schweiz eingebracht – in den letztgenannten Ländern angeblich auf französische Intervention hin.
Unter den von außerhalb Europas kommenden Konferenzteilnehmern registrierten manche verwundert, wie sehr der Begriff „multikulturell“ in Europa an Anziehungskraft verloren hat. Den muslimischen Vertretern gilt das multikulturelle Neben- und Miteinander weiterhin als Idealvorstellung. Einige Gesprächspartner aus dem Nicht-Westen sahen im Gastgeberland Aserbaidschan, einem gleichermaßen religionspositiven wie säkularen Staat, ein geeignetes Modell. Nach westlichen Maßstäben klingt das befremdend. Aserbaidschan gilt als autoritär regiert; auf dem Freiheitsindex der US-Organisation Freedom House rangiert es mit 7 von 100 Punkten weit hinten.
Doch die westlichen Maßstäbe verlieren weltweit an Autorität. Das birgt die Chance für ein Land wie Aserbaidschan, sich als Alternative zu präsentieren. Nicht wenige Muslime erfahren die europäischen Gesetze, Werte und Vorstellungen als diskriminierend; daran ändert auch die oberflächliche Toleranz- und Diversitätsrhetorik nichts. Zusätzliche Zweifel schafft die verbreitete Debatte um Neokolonialismus und Dekolonisation, doppelte Standards, Doppelmoral, westliche Verlogenheit und Heuchelei. Vor dem Hintergrund muss man eine Konferenz begrüßen, auf der islamische Erwartungen und Ansprüche klar formuliert und definiert werden. Auch wenn das Fazit lautet: Eine echte Integration der Muslime in das weitgehend postreligiöse Europa scheint nur möglich zu sein, wenn der Islam sich zuvor selbst überwindet. Und danach sieht es nicht aus.