Tuesday, March 12, 2024

Der Alltag im Krieg verändert sich hinter den Fassaden – ein Streifzug durch Moskau

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Der Alltag im Krieg verändert sich hinter den Fassaden – ein Streifzug durch Moskau Markus Ackeret, Moskau • 14 Std. • 6 Minuten Lesezeit In diesem Flur war es vor zwei Jahren so dunkel und still, als sei das Gebäude in aller Hast für immer verlassen worden. Die Pflanzen in der Mitte waren noch da, die Firmenschilder leuchteten noch, aber hinter den Schaufensterscheiben herrschten Düsternis und Leere. «Aus technischen Gründen vorübergehend geschlossen», hiess es lakonisch auf Aushängen. Im Einkaufszentrum Jewropeiski, einer der grössten innerstädtischen Shopping-Malls in Moskau am Kiewer Bahnhof, herrschte kurz nach Russlands Grossangriff auf die Ukraine Untergangsstimmung. Zwei Jahre später leuchtet dieselbe Ladenzeile wie in den alten Zeiten. Anstelle internationaler Marken prangen jetzt aber die Logos von zuvor unbekannten Firmen über den Geschäften: Maag statt Zara, Ecru statt Bershka, Dub statt Pull and Bear. Limé, eine russische Modekette, expandiert ebenso rasant wie Gloria Jeans. Und die Umsätze, sagen Branchenkenner, seien mitunter erst noch höher als früher. Lieber Küche als Café Zwei Jahre Krieg gegen die Ukraine: Das ruft in Erinnerung, dass es eine Zeit vor und eine nach dem 24. Februar 2022 gibt. So dramatisch, wie es in den ersten Wochen nach der schockierenden Invasion geschienen hatte, selbst für die zu Präsident Putin loyalen Russinnen und Russen, hat sich der Alltag auf den ersten Blick nicht verändert. Die düsteren Schaufenster in den Einkaufszentren, die leeren Regale in manchen Läden, die Schlangen vor Bankautomaten und die bange Frage, ob Russland in eine existenzielle Wirtschaftskrise taumelt, waren von kurzer Dauer. Die Supermärkte sind voll, auch mit westlichen Importen. In Moskau geht das Leben seinen Gang und trotzt der Tatsache, dass dieser Krieg auch in die Wohnstuben vieler Familien gekommen ist. Moskau und seine Bewohner haben sich an den Krieg und an die Auswirkungen gewöhnt. Gesprächsstoff ist er nur im kleinsten Kreis, in dem alle einander vertrauen. Denn selbst der Mann am Nebentisch im Café könnte die Polizei rufen, wenn ihm das Gespräch in den falschen Hals käme – solche Vorfälle sind bezeugt. Viele schweigen auch in der heimischen Küche, weil sie nicht einmal bei ihren Nächsten Verständnis und Vertrauen finden. Allein das zeigt: Auf den zweiten Blick und unter der Oberfläche haben diese zwei Jahre Moskau verändert. Man muss nur etwas genauer hinschauen. Am Nowy Arbat, der Achse mit den Hochhäusern in Buchform auf der einen Seite und den langgezogenen Flachbauten auf der gegenüberliegenden Seite, stechen die vielen chinesischen Autos heraus. Sie gehören nun zum Strassenverkehr wie die Volkswagen, Skodas, Hyundais und Kias, die nur noch über Parallelimporte nach Russland gelangen. Am Nowy Arbat, einer zentralen Verkehrsachse in Moskau, hat sich äusserlich gegenüber der Vorkriegszeit wenig verändert. Zwei der Flachbauten, das Kino Oktober und Moskaus grösstes Buchkaufhaus, das Dom Knigi, sehen noch aus wie immer. Aber auf der langgestreckten Fassade des Kinos flimmert jetzt öfter als früher patriotische Werbung in den Farben der russischen Trikolore. Westliche Filme werden keine mehr gezeigt. Die europäischen und amerikanischen Filmverleiher haben mit Russland gebrochen. Neue russische Produktionen finden dafür mehr Anklang – nicht immer sind sie stromlinienförmig. Beliebte Autoren sind verschwunden Im Dom Knigi («Haus des Buches») war die Anpassung an die neuen Realitäten schleichender. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die «Feinde» im Innern, ein Kulturkampf. Unter dem Schlagwort der Verteidigung «traditioneller Werte» und der Abwehr ausländischer Einmischung schränkt er die Freiheit des Denkens ein – und dessen, was gelesen werden soll. Noch vor drei Monaten lagen die Titel von Autoren, die zu «ausländischen Agenten» erklärt wurden, aus, versehen nur mit dem diskreditierenden Label und eingeschweisst in Folie. Mittlerweile sind sie aus den Regalen verschwunden. In der Abteilung für politische und historische Bücher dreht sich nun alles um die «militärische Spezialoperation», um die Geschichte der Geheimdienste, den «Krieg gegen Russland» und natürlich um Heldengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch ein Buch mit tagebuchartigen Aufzeichnungen über Wladimir Putins Wirken, erschienen in der Reihe «Sammler russischer Erde», liegt aus. Wer das Regal zur Geschichte Russlands von früheren Besuchen kennt, staunt: Lenins und Stalins Konterfeis und Namen dominieren jetzt. Aber ganz eindeutig ist die Sache nicht. Oben in der Mitte sticht die Übersetzung von Anne Applebaums grosser Geschichte des Gulag, des sowjetischen Straflagersystems, noch immer heraus. Die Bücher von einigen früher besonders beliebten und bekannten russischen Prosaautoren sind ganz verschwunden. Boris Akunin etwa, der mit seinen lebensweltlichen Kriminalromanen einer der populärsten zeitgenössischen Autoren ist, wurde nicht nur zum «ausländischen Agenten» erklärt, sondern auch auf die Liste der Extremisten und Terroristen gesetzt und zur Fahndung ausgeschrieben. Ljudmila Ulitzkaja ist in Russlands Buchläden ebenfalls nicht mehr erwünscht, auch sie ist zur «ausländischen Agentin» gestempelt worden. Dafür sind Gedichtbände mit sogenannter Z-Poesie zum Krieg besonders prominent platziert. Inwieweit das tatsächlich den Lesergeschmack trifft, ist schwer zu beurteilen. Vielsagend ist die Nachfrage nach George Orwells Antiutopie «1984». Keine Bühne mehr für Andersdenkende Vom Nowy Arbat geht es in direkter Linie zum Kreml und von dort weiter an den Theaterplatz. Moskaus Elektrobus-Flotte hat die Fahrt viel bequemer gemacht als früher im klapprigen Trolleybus. Das Bolschoi-Theater hat sein Repertoire nicht auf den Kopf gestellt, aber manch ein Artist ist aus Protest gegen den Krieg gegangen oder gegangen worden. Auch der Direktor Wladimir Urin wurde jüngst verabschiedet – sein Nachfolger ist einer der treusten Kulturschaffenden des Regimes, Waleri Gergijew. Er verbindet die Leitung des Mariinski-Theaters in St. Petersburg mit derjenigen des Bolschoi. Überhaupt fegten die Kulturbehörden mit dem eisernen Besen durch die Theaterlandschaft. Spielstätten, die über Jahre zu Kultorten modernen und freien Moskauer Kulturschaffens geworden waren wie das von Kirill Serebrennikow geprägte Gogol-Zentrum, sind auf Mittelmass zurückgestutzt worden. Beliebte Schauspieler mussten nach Anti-Kriegs-Aussagen die Bühnen verlassen. Stücke von Autoren, die gegen den Krieg eintreten, wurden aus dem Programm genommen. Für viele Moskauerinnen und Moskauer, die trotz Repression im Land ausharren, waren Theateraufführungen in den ersten Monaten der Katastrophe des Krieges zu einer Art Sauerstoffzufuhr geworden. Wenn aber ihre Lieblingsschauspieler über Nacht Auftrittsverbot bekommen, weil sie eine andere als die offizielle Meinung vertreten haben, werden auch die Theater zu Orten der Staatspropaganda und zum Nicht-Ort für Andersdenkende. Erschüttert hat diese vor allem das Strafverfahren gegen die Regisseurin Schenja Berkowitsch und die Dramaturgin Swetlana Petritschuk, die mit ihrem Stück über Frauen, die von Terroristen des Islamischen Staats nach Syrien gelockt werden, angeblich Terrorismus gerechtfertigt haben. Seit zehn Monaten sitzen die beiden in Untersuchungshaft. Verschworene Gemeinschaften im Gericht Das Verfahren gegen Berkowitsch und Petritschuk steht nicht nur für das, was sich hinter den Mauern der Kulturinstitutionen gewandelt hat. Auch Moskaus Gerichte sind äusserlich unverändert, aber ihr Innenleben ist bedrohlicher geworden. Prozesse mit eindeutig politischer Ausrichtung sind beinahe alltäglich. Mit viel Willkür schafft das Regime eine Stimmung der Angst. Eine Zustimmung zu einer Veröffentlichung in den sozialen Netzwerken kann für ein Verfahren ausreichend sein, aber auch ein falsches Wort zur falschen Zeit, das von den Falschen mitgehört wurde und als «öffentlich» gilt. Oft versammeln sich ähnliche Gruppen in den Gerichtssälen: Gleichgesinnte, Reporter, Diplomaten. Anwälte sind angesichts der erzwungenen Auflösung wichtiger Menschenrechtsorganisationen zu Stützen der Andersdenkenden geworden. Selbst wenn sie eine Verurteilung nicht verhindern können, sind ihre Präsenz im Gericht und ihre Besuche im Gefängnis für die Betroffenen und ihre Angehörigen lebenswichtig. Letztlich ist es nur ein kleiner, verschworener Kreis, der von dieser für die Gesellschaft schwerwiegenden Erschütterung überhaupt Notiz nimmt. Manch einer wundert sich über den Andrang vor Gericht – die Namen derer, die wegen ihrer politischen Haltung vor dem Richter stehen, kennen zufällige Passanten, Taxifahrer und Polizisten gar nicht. Auf dem Weg vom Bolschoi-Theater zu einem der einschlägigen Bezirksgerichte kommen Spaziergänger nicht nur an der Lubjanka vorbei, dem wuchtigen Sitz des Geheimdienstes FSB, dessen Ruf mit den sowjetischen Vorgängern NKWD und KGB verbunden ist. Ein kleines Universitätsviertel ist dahinter in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden – rund um eines der Hauptgebäude der Higher School of Economics. Die auf Russisch kurz «Wyschka» genannte Hochschule hätte das westliche Universitätssystem nach Russland bringen sollen und galt lange Jahre als ein Hort freiheitlichen, offenen Denkens. Noch immer zieht sie die besten Studenten an. Aber nach und nach wurden in den vergangenen vier Jahren freiheitlich denkende Dozenten aus den Human-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften entlassen; der Krieg beschleunigte das noch. Studenten und Dozenten wurden politische Äusserungen untersagt, die Spitze der Universität wurde ausgewechselt, und ein FSB-Abgesandter im Rektorat sorgt dafür, dass die «richtige» Linie durchgesetzt wird. So steht die Universität für den generellen Trend der Abschottung und Gleichschaltung im russischen Wissenschaftsbetrieb. Die europäischen Flaggen sind weg Verschwunden sind auch Orte, an denen sich diejenigen getroffen hatten, die sich jetzt als verschworene Gemeinschaft in Gerichtssälen wiederfinden: Die Bürgerrechtsorganisation Memorial, das Sacharow-Zentrum oder die Moskauer Helsinki-Gesellschaft wurden aufgelöst und mussten ihre Büros schliessen. Sehr viele Mitarbeiter dieser Institutionen leben gar nicht mehr in Russland. Vom östlichen Rand des Gartenrings fährt der Bus im Stadtzentrum noch einmal am Bolschoi-Theater vorbei und an der Manege, dem grossen Ausstellungssaal beim Kreml, der nun öfter Propaganda-Ausstellungen zeigt. Zurück am Kiewer Bahnhof hat das Einkaufszentrum Jewropeiski («das Europäische») den Namen behalten, ebenso der Europa-Platz davor. Aber wo an im Kreis aufgestellten Fahnenstangen die Flaggen europäischer Länder flatterten, ragen nun nur noch die leeren Masten in den Himmel.