Saturday, March 2, 2024
12.000 in Griechenland anerkannte Flüchtlinge erhalten in Deutschland erneut Asyl
WELT
12.000 in Griechenland anerkannte Flüchtlinge erhalten in Deutschland erneut Asyl
von Marcel Leubecher, Nikolaus Doll • 4 Std.
Erst in Griechenland, später in Deutschland: Eine große Zahl von Asylbewerbern, überwiegend aus Syrien und Afghanistan, erhielt 2023 zweimal Asylschutz. Mit der EU-Asylreform könnte die Weiterwanderung einer großen Gruppe von Asylzuwanderern in die Bundesrepublik sogar erleichtert werden.
In Deutschland haben im vergangenen Jahr 12.300 Migranten einen Schutztitel erhalten, die zuvor bereits nachweislich in Griechenland als Flüchtlinge anerkannt worden waren. Dies erfuhr WELT AM SONNTAG vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Die Behörde entschied 2023 insgesamt über 16.500 Asylanträge von Zuwanderern, denen in Griechenland bereits ein Schutzstatus zuerkannt wurde. Bei 1900 erledigte sich das Verfahren, etwa weil sie in ein anderes Land weiterzogen, und nur 2300 von ihnen erhielten eine Ablehnung, teilt das Amt WELT AM SONNTAG mit. Die wichtigsten Herkunftsnationalitäten waren Afghanistan und Syrien.
Dass in Griechenland bereits anerkannte Asylbewerber, die weiterziehen und in Deutschland einen neuen Antrag stellen, nicht zurückgeschickt werden, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wie viele es exakt waren, kann das Amt nicht mitteilen, es waren aber verschwindend wenige. Insgesamt wurden laut Bundesinnenministerium (BMI) im vergangenen Jahr 158 Personen von Deutschland nach Griechenland abgeschoben, darunter aber auch abgelehnte Asylbewerber oder schon während des Verfahrens nach Deutschland Weitergezogene.
Wichtigster Grund für die seit Jahren verschwindend geringen Rücküberstellungen sind mehrere Verwaltungsgerichtsurteile, die wegen zu geringer Sozialversorgung in Griechenland die Abschiebung als menschenunwürdig beurteilten.
In den Behörden sorgt außerdem für Unmut, dass die Bundesregierung beziehungsweise das dafür zuständige Innenministerium von Nancy Faeser (SPD) die Urteile weitreichend auslegt. „Dass die Überstellungen nach Griechenland nicht nur für jene, die dort mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit von Sozialleistungen abhängig wären, ausgesetzt sind, sondern auch für junge, gesunde Männer, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dort Arbeit finden würden und gar nicht die als zu niedrig beurteilten Sozialleistungen benötigen, liegt nicht an den Gerichten, sondern im Entscheidungsspielraum des Bundesinnenministeriums“, heißt es aus damit befassten Behörden gegenüber WELT AM SONNTAG.
Faesers Behörde antwortet zu diesem Vorwurf, die Gerichte stützten ihre Urteile „auch auf Erkenntnisse, wonach diese Personen de facto keinen Zugang zu Arbeit haben“. Im Interview kündigte Faeser zudem einen erheblichen Ausbau des BAMF um 1160 Stellen an. Faeser lobte den Durchbruch bei der Bezahlkarte für Asylbewerber: „Den Behörden spart die Karte Bürokratie. Und sie verhindert, dass Geld an Schleuser geht.“
Schwachstellen in der europäischen Migrationsarchitektur
Die Zuwanderung der schon anderswo anerkannten Flüchtlinge unter Berufung auf das Asylrecht ist nur eine der Schwachstellen der Migrationsarchitektur Europas. Das Gros der Asylzuwanderung – 2023 gab es mehr als 300.000 Anträge – entfällt auf Migranten, die während ihres Verfahrens in einem anderen EU-Staat – nach Ablehnung oder gänzlich unregistriert – nach Deutschland weiterziehen.
Mit der anstehenden EU-Asylreform könnte die Weiterwanderung einer großen Gruppe von Asylzuwanderern nach Deutschland sogar erleichtert werden. Künftig sollen Migranten mit geringer Aussicht auf eine Anerkennung per Grenzverfahren in den Ersteinreisestaaten geprüft werden. Für die dort abgelehnten Asylbewerber sollen die Länder aber nur 15 Monate zuständig bleiben.
In der bisher nicht veröffentlichten, aber WELT AM SONNTAG vorliegenden aktuellsten Fassung der Asylmanagementverordnung vom 2. Februar heißt es in Artikel 27: Die Zuständigkeit für einen Asylsuchenden „endet 15 Monate nach einer rechtskräftig ablehnenden Entscheidung“. Sobald ein „Antrag nach diesem Zeitraum“ in einem anderen EU-Staat gestellt werde, gelte „dieser als neuer Antrag“.
Aus Kreisen der EU-Kommission heißt es zu dieser 15-Monatsfrist gegenüber WELT AM SONNTAG: „Dieses Zugeständnis musste den Ersteinreisestaaten in den Verhandlungen gemacht werden.“ Das BMI argumentiert, zwar komme die 15-Monatsfrist, aber andererseits würden Überstellungen von Asylsuchenden in den zuständigen Staat unkomplizierter, schneller und in längeren Fristen als bisher möglich.
Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, kritisiert: „Das ist eine Kapitulationserklärung des EU-Asylsystems vor dem hunderttausendfachen Rechtsmissbrauch, den wir schon heute erleben. Kein Wunder, dass andere EU-Staaten zustimmen, wenn sie nach 15 Monaten die Verantwortung für abgelehnte Asylbewerber loswerden.“