Sunday, September 17, 2023

„Ich erwarte von Deutschland eine Vorreiterrolle“

FR „Ich erwarte von Deutschland eine Vorreiterrolle“ Artikel von Tobias Schwab • 1 Std. UN-Nachhaltigkeitsziele „Ich erwarte von Deutschland eine Vorreiterrolle“ Mittagessen in einer Schule in Niger. „Kein Hunger“ und „Hochwertige Bildung“ zählen zu den UN-Zielen der Agenda 2030. Nachhaltigkeitsexperte Kai Niebert über die Halbzeitbilanz der Agenda 2030, die Finanzierung der Entwicklungsziele und Forderungen an Kanzler Scholz. Ein Interview von Tobias Schwab Im Juli war Kai Niebert Mitglied der deutschen Delegation beim High Level Political Forum in New York, um den UN-Nachhaltigkeitsgipfel vorzubereiten, der an diesem Montag beginnt. Jetzt kommt es auf die Regierenden an – und auch Niebert schaut gespannt nach New York. Von den Industrienationen fordert er deutlich mehr Engagement beim Kampf gegen die Armut und die Zerstörung der Umwelt. Herr Niebert, die Staats- und Regierungschef:innen treffen sich in New York zum Halbzeitgipfel für die nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der UN. Nur etwa zwölf Prozent der Zielmarken der Agenda 2030 sind bislang erreicht. Was erwarten Sie von dem Gipfel? Bis zur Corona-Pandemie und Russlands Krieg gegen die Ukraine waren wir auf einem guten Weg, den globalen Nachhaltigkeitszielen näher zu kommen. Doch nun zur Halbzeit heißt es „Halfway through but nowhere close“, die Zahl der hungernden und in Armut lebenden Menschen steigt wieder, ebenso wie die CO2-Emissionen. Der Gipfel muss hier ein klares Signal setzen: Jetzt erst recht, wir lassen nicht nach. Im Entwurf der Abschlusserklärung wollen die UN-Mitgliedsstaaten offenbar nur das bestätigen, was schon seit Jahren auf ihrer Agenda steht. Wäre das schon ein Erfolg? Es ist richtig, nicht an den Zielen zu rütteln. Aber beim Willen und den Maßnahmen, um die Ziele zu erreichen, müssen die Staats- und Regierungschef:innen nachschärfen. Ja, wir haben gerade viele Krisen. Aber die Nachhaltigkeitsziele wurden geschaffen, um Krisen zu lösen. Da dürfen wir jetzt nicht nachlassen. Auch 2015, als sich die Weltgemeinschaft auf die Agenda 2030 geeinigt hat, war Krise: der IS auf dem Vormarsch, Flüchtlingskrise in Europa, Angriff auf die Krim. Die Botschaft dieses Gipfels muss sein, dass wir mit und in Krisen leben müssen und dass diese Krisen für uns Ansporn sein müssen, die Transformation zu beschleunigen. Fehlt da der politische Wille? Da muss man nur nach Deutschland blicken: Solange die Nachhaltigkeitsziele nicht zur Chefsache werden, wird das nichts. Der Kanzler muss hier Führung zeigen und die gesamte Regierung in die Verantwortung nehmen. Eine Business-as-usual-Politik, bei der man dann nachträglich überlegt, wie sie zu einem der 17 Nachhaltigkeitsziele beiträgt, ist nicht nachhaltig. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Ampel die Agenda 2030 umsetzen will – sie muss es nur auch wollen. Vielen Staaten fehlt der finanzielle Spielraum für die Umsetzung der SDGs. „Die halbe Welt versinkt in einem Entwicklungsdesaster“, schreibt UN-Generalsekretär António Guterres in einen Bericht zur globalen Verschuldung. 90 Prozent der allerärmsten Menschen leben in den Staaten mit der höchsten Schuldenlast. Wie sollen diese Länder in Bildung und Gesundheit investieren? Der Weg in eine nachhaltige Welt ist ein riesiges Investitionsprogramm. Damit gerade die ärmsten Staaten das schaffen, brauchen wir eine massive Entschuldung. Viele Länder sind unverschuldet in diese Situation geraten. Hinzu kommt, dass wir die Folgen unseres Wirtschaftens in den Globalen Süden auslagern. Denken Sie an die Klimakrise, die wir verursachen, die Dürren aber schlagen anderswo zu Buche. Arme Länder müssen sich dann das Geld für den Wiederaufbau nach Klimakatastrophen leihen und verschulden sich so immer weiter. Hinzu kommt, dass sie die Kredite zu einem viel höheren Zinssatz von meist 14 Prozent aufnehmen müssen. Reiche Staaten zahlen oft nur vier Prozent. Welche Rolle sollte die Weltbank spielen? Die internationale Entwicklungsfinanzierung sollte so reformiert werden, dass die Weltbank sich zwar weiterhin der Reduzierung von Armut verschreibt, aber auch Auswirkungen globaler Krisen stärker in den Blick nimmt. Was meinen Sie damit? Dass sie künftig nicht mehr nur in erster Linie für die Bekämpfung von Armut und Hunger zuständig ist, sondern auch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung finanziert. Die Weltbank muss zu einer Transformationsbank werden. Als wir im Juli in New York den SDG-Gipfel vorbereitet haben, wurden hier aber durchaus Vorbehalte aus dem Globalen Süden deutlich. Warum? Es gibt dort die klare Sorge, dass der Geldtopf zu klein ist, wenn mit den Mitteln künftig nicht nur Armut beseitigt, sondern auch noch Solarparks finanziert werden sollen. Ich verstehe die Sorge. Aber klar ist: Der Weg aus der Armut und zur Ernährungssicherung kann nur mit einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung gelingen. Ohne beispielsweise eine stabile Energieversorgung baut keiner ein Unternehmen auf – und ohne nachhaltig wachsende Unternehmen kein Wohlstandswachstum. Wir müssen die Länder jedoch unterstützen, nicht unsere Fehler zu wiederholen. Das heißt? Die Länder müssen unsere nicht nachhaltigen Entwicklungsstufen überspringen, sollten also jetzt nicht anfangen, fossile Gas- und Ölinfrastrukturen aufzubauen oder durch eine Übernutzung synthetischer Dünger ihre Ökosysteme zu zerstören. Wenn sie unterstützt von der internationalen Gemeinschaft gleich massiv in den Aufbau von erneuerbaren Energien investieren, können wir der Agenda 2030 näherkommen. Wo sehen Sie jetzt die entscheidenden Hebel, um global bei den SGDs deutliche Fortschritte zu machen? Vor allem ist eine Reform des globalen Finanzsystems notwendig, wie sie auch die Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, mit ihrer sogenannten Bridgetown-Initiative beschreibt. Wir brauchen mehr öffentliche und private Investitionen, um den Kreislauf von Armut zu durchbrechen. Wo soll das Geld dafür herkommen? Neben Schuldenerlassen braucht es eine Umlenkung des Finanzkapitals. Es fließen weltweit noch Billionen Dollar in die Subventionen von fossilen Energien. In Deutschland stecken wir noch 65 Milliarden Euro in Geschäftsmodelle, die den Nachhaltigkeitszielen widersprechen. Ich sage deshalb klar: Wir müssen diese Mittel nutzen, um die Transformation zu finanzieren, und nicht, um einen toten Gaul wiederzubeleben. Auch über die Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds müssen wir reden. Sie meinen die Währungsreserven, die der IWF schaffen und anteilig seinen Mitgliedsstaaten zuteilen kann. Ja. Die Sonderziehungsrechte sind eine Art spezielle Notfallwährung, mit denen der IWF auf Krisen reagieren kann. Das Problem: Die armen Länder bekommen davon kaum etwas ab. Deutschland hat zuletzt 30 Milliarden erhalten – mehr als der gesamte afrikanische Kontinent. Wenn wir eine globale Krise haben, dann sollten diese Mittel auch denen zugutekommen, die am meisten darauf angewiesen sind. Ich erwarte da von Deutschland eine Vorreiterrolle, indem es die 2021 ausgeschütteten Mittel für die Nachhaltigkeitsfinanzierung in den ärmsten Ländern zur Verfügung stellt. Was braucht es noch über eine ausreichende Finanzierung hinaus? Wir brauchen mehr Verbindlichkeit für die Erreichung der Ziele. Die regelmäßigen hochrangige politische Foren für nachhaltige Entwicklung zur Überprüfung der Fortschritte bei den SDGs müssen deshalb vom Kanzler und den Staats- und Regierungschefs wahrgenommen werden, damit es entscheidend vorangeht. Es erstaunt immer wieder, dass viele Menschen hierzulande mit dem Begriff SDGs nichts anzufangen wissen. Haben wir ein Problem in der Vermittlung? Ich glaube nicht, dass die Zahl der Menschen, die alle 17 Nachhaltigkeitsziele runterbeten können, ein guter Indikator für die Nachhaltigkeit in Deutschland ist. Was wir brauchen, ist ein entsprechender Wille bei Entscheidungsträger:innen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zur Nachhaltigkeit. Es wäre mir wichtiger, dass ein künftiger Investmentbanker etwas über planetare Belastungsgrenzen lernt, als dass ein Schüler 17 Nachhaltigkeitsdilemmata anhand des Frühstücks in seiner Brotdose erklären kann. Aber globales Lernen hat vielerorts noch nicht den Stellenwert, der ihm zukommen müsste. Ja, wir müssen die Themen der Agenda 2030 viel stärker in die Schulen und den Unterricht hineintragen. Aber nicht in dem Sinne, dass wir die Verantwortung für Nachhaltigkeit individualisieren und den einzelnen dafür verantwortlich machen, dass er kein Fleisch mehr isst oder das Licht ausschaltet. Es muss darum gehen, die politischen Rahmenbedingungen für eine gelingende Transformation zu gestalten. Alle müssen sich in die Pflicht genommen fühlen aber auch in die Lage versetzt werden, die globalen Ziele lokal umzusetzen. Fehlt uns für die Agenda 2030 vielleicht das starke Narrativ? Das zentrale Motto der Nachhaltigkeitsziele „Leave no one behind“ ist nichts anderes als die Übersetzung des Wahlkampfs für mehr Respekt, den Kanzler Scholz geführt hat. Wenn er sich von nun an ernsthaft und umfänglich dem Erreichen der Nachhaltigkeitsziele widmet, hat der Kanzler unser aller Respekt verdient.