Saturday, September 16, 2023
EU-Tunesien-Abkommen fliegt von der Leyen um die Ohren
RP ONLINE
EU-Tunesien-Abkommen fliegt von der Leyen um die Ohren
Artikel von RP ONLINE •
18 Std.
Brüssel. Die EU hat in Tunis ihr Bedauern über die Entscheidung bekundet, eine Delegation des Europa-Parlamentes nicht ins Land zu lassen. Es ist nur ein Grund dafür, dass sich die Euphorie nach dem EU-Tunesien-Abkommen in Frust und Vorsicht verwandelt hat.
Migranten sitzen an diesem Freitag auf dem Deck eines Schiffes der italienischen Küstenwache, nachdem sie aus dem Meer gerettet worden waren.
„Team Europa ist zurück“, meinte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte Juli in Tunis, als sie mit großer Freude mit der tunesischen Führung unter Präsident Kais Saied eine Vereinbarung unterzeichnet hatte. Das sei „ein gutes Paket“, meinte sie, und an ihrer Seite strahlten die mitgereisten Mark Rutte, geschäftsführender Regierungschef der Niederlande, und Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin Italiens, um die Wette. Endlich würden die rasant gestiegenen Flüchtingszahlen übers Mittelmeer nach Europa sinken. Keine zwei Monate später ist nichts mehr übrig vom Optimismus. Vorläufiger Höhepunkt neuer Verstimmungen ist die Ausladung einer EU-Delegation durch Tunis. Nach dem Einreiseverbot könne es nur eines geben, sagt der davon betroffene Außenexperte der Europa-SPD, Dietmar Köster, unserer Redaktion: „Das Abkkommen muss gestoppt werden.“
Es ist nicht die Kommission oder der Kreis der Regierungschef allein, der düpiert dasteht angesichts der Entwicklung nach den Unterschriften von Tunis. Statt die Zahlen der Migranten schnell nach unten zu bringen, stiegen sie nach Regierungsangaben in den nachfolgenden sechs Wochen sogar um fast 70 Prozent an. Dabei hatte die EU bereits mehr als hundert Millionen von insgesamt bis zu einer Milliarde Tunesien-Hilfe überwiesen, um unter anderem die tunesische Küstenwache zu modernisieren. Ende August flog EVP-Fraktionschef Manfred Weber nach Tunis, um den Druck zu erneuern und noch einmal deutlich zu machen: „Die Zahlen müssen runter.“
In dieser Woche versucht Weber wieder bessere Laune zum Abkommen zu verbreiten. Er steht im Briefing-Raum des Straßburger Parlamentes und fragt: „Was ist die Alternative?“ Die tunesischen Autoritäten hätten ihm versichert, dass die immens gestiegenen Zahlen auf „eine Art Torschlusspanik“ zurückzuführen seien. Viele, die irgendwann nach Europa gewollt hätten, seien noch schnell in die Boote gestiegen. Und Weber hat Neuigkeiten dabei: „In der letzten Woche sind die Zahlen wieder gesunken.“ Allerdings kollidiert diese Nachricht mit der Entwicklung am selben Tag: Bis zum Abend zählen die italienischen Behörden 120 Boote mit Flüchtlingen, fast alle überfüllt und dem Kentern nahe. Ein Baby stirbt, insgesamt erreichen allein an diesem Tag rund 6800 Migranten Italien.
Parallel versuchen Kommission und verschiedene EVP-Politiker, an ihrer Argumentation festzuhalten. In ihrer viel beachteten Rede zur Lage der EU verkündet von der Leyen: „Wir sind mit Tunesien eine Partnerschaft eingegangen, die über Migrationsfragen hinaus beidseitigen Nutzen bringt - von Bildung und Fachkompetenz bis hin zu Energie und Sicherheit. Und jetzt wollen wir an ähnlichen Abkommen mit anderen Ländern arbeiten.“
Für viele EU-Abgeordnete klingt das wie eine Drohung, zumal dieses angebliche „Abkommen“ bislang nicht viel mehr ist als eine Absichtserklärung. Ein Einblick in sämtliche Details ist nicht möglich. SPD-Migrationsexpertin Birgit Sippel vermutet deshalb: „Vieles scheint noch gar nicht ausgearbeitet zu sein.“ Und sie wundert sich, dass eine derart „schwammige“ und „wenig aussagekräftige“ bloße Absicht zur „Blaupause“ für weitere Abkommen dienen soll.
Linke, Grüne, Sozialdemokraten und Liberale weisen wieder und wieder auf die schwierigen Menschenrechtsbedingungen und den Abbau der Demokratie in Tunesien hin. Von „schmutzigen Deals mit dem Diktator Kais Saied“ spricht die Grünen-Abgeordnete Tineke Strik. Die Linken-Politikerin Cornelia Ernst findet es schäbig, dass Tunesien „die Jagd auf Migranten von der EU bezahlt bekommt“. Und der liberale Migrationsexperte Jan-Christoph Oetjen geht mit einer Reihe Fragen an den Start. Das Abkommen sei in seinen wirtschaftlichen Aspekten „gar nicht schlecht“, meint der FDP-Politiker. „Aber warum jetzt, wo Präsident Saied das Land in eine Autokratie verwandelt?“ Oetjen will auch wissen, ob Saied wirklich ein „verlässlicher Partner“ sein könne, wo er doch gerade wieder Oppositionelle verhaften und Richter absetzen ließ. Und schließlich: „Kann jemand ein guter Partner sein, der Migranten in der Wüste nach Libyen einfach aussetzt ohne Wasser?“ Daraus macht Oetjen eine Gleichung: „Keine Menschenrechte, keine Demokratie - kein Abkommen.“
Es sind Feststellungen wie diese, die in Tunis eine Kurzschlussreaktion auslösen. Hätte das Regime kein schlechtes Gewissen, könnte es ruhig dem Besuch von zwei deutschen und drei französischen Abgeordneten entgegensehen. Michael Gahler (CDU), Dietmar Köster (SPD), Salma Yenbou (Liberale), Mounir Satouri (Grüne) und Emmanuel Maurel (Linke) hatten bereits mit Bedauern zur Kenntnis genommen, dass offizielle Stellen in dieser Woche keine Zeit für sie hätten. „Kritische Bemerkungen“, lautete eine Begründung. So wollten sie von Straßburg aus nach Tunis reisen, um wenigstens mit Oppositionellen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaftern und Zivilgesellschaft die Lage zu erörtern. Darauf folgte die komplette Einreiseverweigerung.
„Zutiefst überrascht“ zeigte sich davon der Auswärtige Dienst der EU. Nötig sei der offene und ehrliche Dialog, gerade in einer Zeit beispielloser Herausforderungen. Eine „ausführliche Erklärung“ für die Zutrittsverweigerung verlangen die betroffenen Parlamentarier. „Beispiellos“ sei dieses Verhalten seit der demokratischen Revolution des Jahres 2011. Der CDU-Außenexperte Gahler, der die Delegation leiten sollte, hat das Desaster der Migration kommen sehen. Er legt die Passagen jener bestehenden Abkommen von 1995 und 2018 auf den Tisch, wonach beide Seiten die Einhaltung demokratischer Strukturen und Menschenrechte garantieren. „Offenbar leere Worte beiderseits“, kommentiert Gahler.
„Achselzuckend“ habe die EU den Staatsstreich von oben geschehen lassen, obwohl Richter und die Wahlbehörde entlassen oder gleichgeschaltet, Medien unter Druck gesetzt, Parteien von der Wahl ausgeschlossen und führende Oppositionelle nun im Gefängnis oder im Exil seien. Die Wirtschaft sei den Bach runter gegangen und der Präsident habe Hetzreden gegen Schwarzafrikaner im Lande gehalten. Das treibe die Menschen nun in die Boote, darunter auch Tunesier selbst und nicht nur Flüchtlinge aus anderen Ländern. Das Geld, das die EU jetzt anbiete, hätte sie nach Gahlers Worten besser vor zwei Jahren schon auf den Tisch legen sollen - verknüpft mit der Bedingung, zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren.
„Ich habe damals gesagt: Ihr werdet Euch erst wieder für Tunesien interessieren, wenn die Menschen in die Boote steigen. Genauso ist es gekommen“, sagt Gahler verbittert über die „kurzsichtige“ Verengung komplizierter Vorgänge auf die Migrationsfrage. Sein SPD-Kollege Köster unterstreicht: „Wir können Autokraten, wie den tunesischen Präsidenten nicht auch mit europäischen Steuergeldern für seien demokratiefeindliche und menschenrechtswidrige Politik gegen Flüchtlinge belohnen.“ Sein Appell: „Frau von der Leyen muss endlich ihre Pläne beerdigen.“