Friday, September 15, 2023
Die Konflikte um Wohnraum nehmen zu
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Konflikte um Wohnraum nehmen zu
Artikel von Julia Löhr •
48 Min.
Der Tübinger Oberbürgermeister sagt, da Städte Wohnungen für Geflüchtete anmieten müssen, werde dem allgemeinen Wohnungsmarkt Wohnraum entzogen.
Für den 25. September hat das Kanzleramt zum Bilanzziehen eingeladen. Ein Jahr nach dem Start des Bündnisses für bezahlbaren Wohnraum will Olaf Scholz (SPD) mit Wohnungs- und Sozialverbänden „über die Schwerpunkte unseres Engagements für zusätzliche Investitionen in den bezahlbaren und klimagerechten Wohnungsbau sprechen“, wie es in der Einladung heißt. Was nach einer Routineveranstaltung klingt, könnte brisant werden. Denn durch die vielen nach Deutschland geflüchteten Menschen wird die Lage auf dem Wohnungsmarkt immer angespannter.
Im Berliner Stadtteil Pankow sorgt derzeit ein Neubauprojekt der landeseigenen Wohnungsgesellschaft Gesobau für Unmut. Auf der Grünfläche einer Wohnanlage sollen 99 Wohnungen für Flüchtlinge entstehen. Pläne für einen Neubau an dieser Stelle gibt es schon länger, aber auch Widerstand von Anwohnern, deshalb geschah bislang nichts. Nun soll eine Sonderregelung im Baugesetzbuch angewendet werden, die den Bau von Unterkünften für Flüchtlinge vereinfacht.
Die Anwohner sind verärgert. Sie wollen eine geringere Nachverdichtung, den Erhalt von Spielplatz und Bäumen „für alle, egal welcher Herkunft“, wie die Initiative Grüner Kiez Pankow auf der Plattform X schreibt. Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) verteidigte das Vorgehen: Integration finde „in der Mitte unserer Gesellschaft statt“, schrieb sie in der „Berliner Zeitung“.
Neubau erst einmal nur für geflüchtete Menschen
In Berlin-Spandau plant eine andere kommunale Wohnungsgesellschaft ebenfalls einen Neubau, dessen 128 Wohnungen zunächst ausschließlich an geflüchtete Menschen vergeben werden sollen. „Im Anschluss“ sollen die Wohnungen auch anderen zur Verfügung stehen. Die Senatsverwaltung für Wohnen verweist auf Pläne der landeseigenen Gesellschaften, bis 2026 54.000 neue Wohnungen bauen zu wollen. „Das Land Berlin muss sowohl den Belangen der hier lebenden Menschen nachkommen als auch die Verantwortung und Verpflichtung wahrnehmen, geflüchteten Menschen Schutz und Unterkunft zu bieten“, sagt ein Sprecher von Bausenator Christian Gaebler (SPD).
Nach im Januar veröffentlichten Schätzungen eines Verbändebündnisses fehlten in Deutschland mehr als 700.000 Wohnungen, der höchste Stand seit mehr als zwanzig Jahren. Im vergangenen Jahr wurden 295.300 Wohnungen fertiggestellt. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) sagte zuletzt, wegen der Flüchtlinge aus der Ukraine seien wahrscheinlich eher 500.000 bis 600.000 neue Wohnungen im Jahr nötig als die 400.000, die sich die Ampelkoalition vorgenommen hatte.
Es sei zu befürchten, dass wegen der Preissteigerungen und der bürokratischen Anforderungen in diesem Jahr „möglicherweise nur rund 200.000 Wohnungen“ entstehen würden, sagt Gerd Landsberg, Geschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. „Das führt natürlich dort, wo Wohnungen knapp sind, zu Konflikten.“ Auf dem Wohnungsgipfel müssten deshalb konkrete Schritte verabredet werden, wie schnell mehr neue Wohnungen geschaffen werden könnten. „Vor Ort ist es Aufgabe der Kommunalpolitik, dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das ist mitunter schwierig.“
Es kommt zu Verteilungskonflikten
„Unserer Wahrnehmung nach nehmen die gesellschaftlichen Spannungen auch in den Landkreisen im Hinblick auf die Flüchtlingsaufnahme generell zu“, sagt Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistags. Es sei sinnvoll, für Flüchtlinge „echte Wohnungen“ zu bauen – zur Integration der Menschen und weil diese Wohnungen später weiter genutzt werden könnten. „Das sichert an manchen Stellen sogar die Akzeptanz.“ Es könne aber gar nicht so viel Wohnraum geschaffen werden wie benötigt. Der Bund müsse unbedingt die Zuwanderung begrenzen und besser steuern, so Sager. Aktuell gehe „das Vertrauen der Bürger in den Staat ein Stück weit verloren“.
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos, früher Grüne) weist schon seit Monaten auf die Verteilungskonflikte hin. „Rechnerisch sind alle seit 2015 neu gebauten Sozialwohnungen in Tübingen mit geflüchteten Menschen belegt“, sagt er. „Zusätzlich müssen wir Wohnungen anmieten, um unserer Unterkunftspflicht nachzukommen. Das heißt, wir entziehen dem allgemeinen Wohnungsmarkt Wohnraum.“ In seine Sprechstunde kämen Menschen, die 45 Jahre gearbeitet hätten und jetzt als Rentner eine günstigere Wohnung brauchten. „Die fragen dann mit Tränen in den Augen, wo sie hinsollen. Und ich kann nur sagen: Ich hab nichts.“
Er sei verpflichtet, Geflüchteten eine „Anschlussunterbringung“ anzubieten. „Diesen Anspruch auf Wohnraum haben Nicht-Geflüchtete nicht.“ Die Konsequenz sei: „Die Bevölkerung, die auf günstigen Wohnraum angewiesen ist, wird verdrängt – und da schließe ich ausdrücklich auch die Migranten ein, die schon lange hier leben.“ 2015 gab es Palmer zufolge in Tübingen 1100 Sozialwohnungen, seitdem seien etwa 400 geförderte Wohnungen dazugekommen. Eigentlich sollen 100 neue Sozialwohnungen im Jahr entstehen, aber die Finanzierung sei schwierig, sagt Palmer.
Lieber weniger Vorschriften, nicht mehr Geld
Ähnliche Erfahrungen macht Thomas Nostadt, Geschäftsführer der Wohnbau Lörrach. Diese sorgte im Februar für Schlagzeilen, weil 40 Mieter aus einem Wohnhaus aus- und Flüchtlinge dort einziehen sollten. Die Hälfte der Wohnungen sei inzwischen frei oder werde es bald, berichtet er und betont: „Es haben sich alle Mieter verbessert.“ Etwa 200 Wohnungen würden jährlich durch Fluktuation frei, 100 entstünden neu, „da tut sich immer eine Lücke auf“. Zumindest bislang.
Wegen der gestiegenen Kosten fängt die Wohnbau Lörrach keine Neubauvorhaben mehr an. Selbst ohne Renditeausrichtung und mit Fördermitteln seien Kaltmieten von 15 Euro je Quadratmeter und mehr erforderlich, sagt Nostadt. „Der Wohnungsmarkt fährt gerade mit Vollgas an die Wand.“
2500 Haushalte stünden bei ihm auf der Interessentenliste. „Die meisten Menschen leiden still, wohnen halt zu fünft in einer Zweizimmerwohnung.“ Vom Wohngipfel im Kanzleramt wünscht er sich nicht in erster Linie mehr Geld, sondern weniger Vorschriften. „Wir haben uns erdrosselt mit Standards“, sagt Nostadt.