Sunday, September 17, 2023

Das Problem von Prognosen: Warum Al-Wazir die Landtagswahl gewinnt

Frankfurter Allgemeine Zeitung Das Problem von Prognosen: Warum Al-Wazir die Landtagswahl gewinnt Artikel von Ralf Euler • 4 Std. Ein Stimmungsbild, keine Prognose: Ob Tarek Al-Wazir (Grüne) der nächste Ministerpräsident von Hessen wird, können Demoskopen nicht voraussagen. Anfang August. Wochenlang hatte es gefühlt nur geregnet, als die Meteorologen endlich Besserung versprachen. Von Dienstag an werde das Wetter wieder annähernd sommerlich, hieß es schon am Samstag zuvor. 24 Stunden, bevor der Umschwung zu einem wohltuenden Mix aus Trockenheit und höheren Temperaturen eingeleitet werden sollte, war tatsächlich nur noch von „ein wenig Regen“ am nächsten Morgen die Rede, und am heiß ersehnten Dienstag kündigte die Wetter-App für die Rhein-Main-Region lediglich ein paar Wolken an – kein Regentropfen auf dem Display in Sicht. Also die Plane vom Fahrrad gezogen, rauf auf den Drahtesel und raus in den sich anbahnenden Sommer. Doch von wegen: Schon zehn Minuten später war der so optimistisch gestartete Radler vom angeblich allenfalls leichten Regen bis auf die Haut durchnässt. Der Sommer, hieß es am Abend in der Nachrichtensendung beinahe entschuldigend, lasse wohl doch noch ein wenig auf sich warten. Tja, so ist das mit Prognosen: Wirklich verlässlich sind allenfalls jene, die sich auf die Vergangenheit beziehen. Das Wetter etwa bleibt trotz modernster Mess- und Prognosetechnik noch immer weitgehend ein Mysterium. Wie es im nächsten Monat wird, weiß ohnehin niemand, aber man wäre ja schon zufrieden, wenn es mit der Vorhersage für den nächsten Tag oder die nächsten Stunden besser klappte. Andererseits: Wenn man nicht gerade klatschnass durch den prasselnden Regen radeln muss, ist es doch geradezu wohltuend zu erkennen, dass die Weisheit der Wissenschaft noch längst nicht immer der letzte Schluss ist. Und schließlich: Was ist ein – wenn auch unerwartet - heftiger Schauer im Vergleich zu den Extremen, die andere Länder in diesem Sommer erleiden müssen: Hitze, Dürre, Wassermangel, Waldbrände, Überflutungen? Warum Al-Wazir die Landtagswahl gewinnt Der ein oder andere Überraschungseffekt macht das Leben auf jeden Fall spannender; manchmal sogar angenehmer. Zum Beginn der Sommerferien etwa hatte der ADAC lange Staus auf den Nord-Süd-Autobahnen der Republik prognostiziert, tatsächlich war dann aber eher weniger als an normalen Wochenenden üblich auf den Schnellstraßen los. Die Autofahrt von Frankfurt nach Berlin verging wie im Flug und fast im Rekordtempo. Womöglich hatten sich viele von den angedrohten kilometerlangen Autoschlangen abschrecken lassen und es vorgezogen, erst ein paar Tage später in die Ferien zu starten. Wenn also jetzt Sportfachleute, Statistiker und Mathematiker orakeln, die Frankfurter Eintracht habe in der gerade angelaufenen Bundesligasaison allenfalls Aussichten auf einen Platz im Mittelfeld der Tabelle, dann dürfen die Fans des Vereins trotzdem auf sehr viel eindrucksvollere Erfolge ihres Vereins spekulieren. Die Eintracht als deutscher Meister? Warum nicht, wenn doch noch nicht einmal das Wetter des nächsten Tages sicher ist, der nächste Winter trotz der Erderwärmung bitterkalt werden und der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Amazonasregion in Niedersachsen einen Wirbelsturm auslösen kann? Auch die Politik ist, wie das Wetter, ein komplexes und chaotisches System. Womit wir bei der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober wären, und die könnte ebenfalls noch für so manche Überraschung gut sein. Die jüngsten Umfragen sehen die CDU von Ministerpräsident Boris Rhein mit großem Vorsprung an der Spitze. Um Platz zwei ringen demnach die Grünen, die mit Wirtschafts- und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir als Spitzenkandidat antreten, die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser in den Wahlkampf geführte SPD und – nach Ansicht der Meinungsforscher – die AfD. Dahinter folgen die FDP und die Linkspartei, die allerdings beide um den Einzug in den Landtag in Wiesbaden bangen müssen. Würde die Linke, wie derzeit vorhergesagt, an der Fünfprozenthürde scheitern, wäre sowohl die Fortführung der seit gut neun Jahren regierenden schwarz-grünen Koalition als auch ein Bündnis zwischen CDU und SPD möglich. Eine Ampelkoalition zwischen SPD, Grünen und FDP wie auf Bundesebene hätte derweil keine Mehrheit. Umfragen bilden lediglich ein Stimmungsbild ab Weil Umfragen aber nicht einmal Prognosen sind, sondern lediglich ein aktuelles Stimmungsbild wiedergeben, sollte sich der amtierende Ministerpräsident Rhein noch nicht allzu gewiss sein, dass er auch in der nächsten Legislaturperiode noch an der Spitze der Regierung stehen wird. Schließlich laufen sich die Wahlkämpfer gerade erst warm; noch kann in Berlin, Wiesbaden und anderswo eine Menge passieren, und wer weiß, welche Themen in den Tagen bis zum 8. Oktober die politische Agenda bestimmen. Weiterhin die hohe Zahl von Zuwanderern und Flüchtlingen? Die schlechte Wirtschaftslage? Das Erstarken der AfD? Die Situation an den hessischen Schulen? Die Angst vor terroristischen Anschlägen? Oder vielleicht doch das Bewusstsein, dass die Erderwärmung die größte globale Herausforderung ist? Umfragen sagen vieles, aber oft nicht das Entscheidende. Am Ende sind sie manchmal kaum verlässlicher als die Wettervorhersage. Bei der Landtagswahl Anfang 2008 galt die CDU in Hessen lange als der sichere Wahlsieger. Am Ende verlor die Union ihre absolute Mehrheit, blieb aber mit 0,1 Prozentpunkten knapp stärkste Partei vor der von Andrea Ypsilanti geführten SPD. Nach monatelangem Gezerre und dem gescheiterten Versuch Ypsilantis, eine von der Linkspartei tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden, erreichten CDU und FDP bei Neuwahlen Anfang 2009 dann gemeinsam eine deutliche Mehrheit. Nicht dass man sich eine solche politische Hängepartie unbedingt noch einmal wünschen würde – aber spannend war es allemal. Doch zurück zu den Erfolgsaussichten des Grünenpolitikers Al-Wazir bei der Landtagswahl. 76 Prozent der Deutschen fürchten um ihre Zukunft angesichts des weltweiten Klimawandels, wie jüngst eine repräsentative Umfrage im Auftrag der „Bild“-Zeitung ergab. 66 Prozent wünschen sich, dass stärker vor den dramatischen Folgen der Klimaerwärmung gewarnt würde, 54 Prozent sind bereit, zugunsten des Klimas weniger Auto zu fahren, und sage und schreibe 82 Prozent plädieren für den Ausbau von Windkraft in Deutschland. Alles seit Langem Forderungen der Grünen. Tarek Al-Wazir und sein Amtskollege und Parteifreund in Berlin, Robert Habeck, könnten jubeln vor Freude. Andererseits: Gefragt, was ihnen derzeit die meiste Angst bereite, nennen 27 Prozent der Bundesbürger die Wirtschaftslage, 24 Prozent den Ukrainekrieg, 21 Prozent den Aufstieg der AfD und nur noch 14 Prozent die Klimakrise. Also doch eher eine gute Ausgangslage für CDU und SPD als für die Grünen? Prognosen bleiben eben Glückssache Einer anderen Umfrage zufolge haben knapp zwei Drittel der Erwachsenen hierzulande (61 Prozent) Angst vor Ereignissen wie Fluten, Tornados, Waldbränden oder extremer Hitze. Noch mehr fürchten sich möglicherweise nur noch davor, dass ihnen der Himmel auf dem Kopf fällt, aber danach haben die Meinungsforscher nicht gefragt. Zwar wollen immerhin 30 Prozent der Bürger auch selbst Konsequenzen aus den Folgen der extremen Wetterereignisse ziehen – etwa nicht mehr in Länder reisen, in denen sie mit großer Hitze oder Waldbränden rechnen müssen. Aber mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) kritisiert, dass die Bundesregierung klimapolitisch zu wenig tue, um die Menschen in Deutschland vor Extremwetter zu schützen. Das kann die Erkenntnisse aus der erstgenannten Umfrage ebenso bestätigen wie widerlegen. Was sagt uns also dieser Wust an Prognosen und Momentaufnahmen? Möglicherweise Folgendes: Die Regierung in Berlin muss weit mehr als bisher für den Klimaschutz tun, die Hotelbesitzer und Campingplatzbetreiber in Island, Grönland und Alaska sollten sich auf einen Touristenansturm gefasst machen, die Eintracht wird deutscher Fußballmeister, und Tarek Al-Wazir hat gute Aussichten, der nächste hessische Ministerpräsident zu werden. Wobei anderslautende Überraschungen auch hier nicht auszuschließen sind. Prognosen bleiben eben Glückssache, und knapp daneben ist auch vorbei.