Saturday, September 16, 2023
Alice Weidel, die AfD und die Angst: Wie lange kann man in Deutschland noch leben?
Berliner Zeitung
Alice Weidel, die AfD und die Angst: Wie lange kann man in Deutschland noch leben?
Artikel von Thilo Mischke •
8 Std.
Alice Weidel (AfD) und Moderator Matthias Deiß beim ARD-Sommerinterview in Berlin.
Ich laufe die Hans-Otto-Straße im Prenzlauer Berg entlang, eine Straße, die sich noch ein wenig anfühlt, als wäre nichts passiert. Hier gibt es kaum Cafés, die Häuser haben weniger Balkone und auch Dachetagenwohnungen sind nicht sofort zu sehen. Vor den Türen steht Sperrmüll, und er ist nicht mit „zum Verschenken“ beschriftet. Ich komme vom Arnswalder Platz, einem Ort, über den angeblich mal ein Mann eine Leiche vom Georgen-Parochial-Friedhof in einem Einkaufswagen geschoben haben soll. Hier habe ich Zigaretten geraucht und in warmen Monaten Beziehungen begonnen und in kalten beendet. Für mich als jemand, der in Lichtenberg groß geworden, aber in Friedrichshain aufgewachsen ist, ein ferner Ort. Ich treffe mich hier mit einer Kollegin zum Gespräch. Ich werde es aufnehmen und als Podcast veröffentlichen.
Die Idee zum Gespräch hatte ich am Sonntagabend, auf dem Rücken liegend in meiner Wohnung, die Sonne unnachgiebig, jetzt, zu dieser Jahreszeit erschöpfend. Ich lag dort und dachte über Alice Weidel nach, die gerade ihr Sommerinterview gab. In dem sie über Niederlagen und Bundesbürger sprach, über das Volk, das sie aus der Schweiz beobachten würde. Über ihre unsensiblen Fantasien, was wir denn brauchen würden und was nicht.
Ich lag dort und hörte zu und fühlte mich unwohl. Ich fühlte mich bedroht. Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr frei und hatte zum ersten Mal in meiner Heimat Berlin das Gefühl: Irgendwann wird leben hier nicht mehr möglich sein. Diese Frau, diese Partei würden mir diese Möglichkeiten nehmen.
Ich, ein weißer, heterosexueller Mann, fühlte mich bedroht. Was war da passiert?
Ich habe das besondere Privileg, Extremisten aller Farben in meinem beruflichen Leben kennenzulernen. Meist verbringe ich Zeit mit ihnen, lebe mit ihnen für einen kurzen Moment und komme dann zu einem Ergebnis. Fasse es zusammen, versuche zu erklären, wie ein Mensch sich radikalisieren konnte. Es spielt keine Rolle, ob religiös, politisch oder beides. Die Mechanismen sind immer die gleichen, die Forderungen auch.
Es wird sich ein vermeintlich schwächeres Element in der Gesellschaft gesucht und es wird zum Feind erklärt. Zum Gegner, ohne dass diese Gruppe das je gewollt hätte. In Deutschland waren und sind es die Juden, die Sozialisten, die Kommunisten, die Sozialdemokraten, es sind die Homosexuellen, die Muslime, die Einwanderer und Geflüchteten, es sind die Ossis, die Kranken. Die Armen, die Ungebildeten, die Hauptschüler. Immer die, die schwach sind, nach ihnen wird getreten.
Und die AfD tritt nicht nur nach ihnen, nein, sie springt im Schlusssprung auf den Freiheitsanspruch eines jeden, der nicht für sie ist. Und wenn sie dann am Boden liegen, wenn sie sich nicht wehren können, dann werden sie instrumentalisiert, für etwas, das die AfD Wahlkampf nennt, was ich aber als Machtanspruch bezeichnen würde.
Es ist die Arbeitsweise hochprofessioneller Extremisten. Ich erhalte Nachrichten von rechtsextremen Twitter-Usern, in denen ich gehängt werden soll, wenn die AfD an der Macht ist, ich erhalte über Instagram Nachrichten von Islamisten, die mich hochgesprengt wissen wollen, und auch Christen mögen mich nicht sonderlich, Corona-Leugner belästigen mich bis heute mit ihrem hohlen Wissensstand. Die Welt, in der ich lebe, hat den Konsens aus den Augen verloren und wird nun von Extremisten bewohnt. Und jeder, der versucht zu vermitteln, wird bedroht. In dieser Welt leben wir nun.
Die Person, mit der ich darüber in der Hans-Otto-Straße spreche, ist eine Fernsehmoderatorin, ihr Vater aus Gambia, ihre Mutter aus Deutschland. Sie ist weiter als ich, viel weiter, weil sie die Angst, in Deutschland zu leben, kennt, viel länger als ich. Weil sie die Bedrohungen kennt.
Sie erzählt von ihrer Heimat Deutschland und von der Enttäuschung, und sie sagt, dass sie aufgegeben hat. Aus Angst wurde bei ihr Übelkeit, wenn sie die 22 Prozent sieht, wenn sie das Sonntagsinterview hört.
Ich nehme dieses Gespräch auf, eine Stunde. Es ist düster, ohne Perspektive, ohne Lösungsansatz, es ist angsteinflößend und streng. Es ist die Beschreibung eines Gefühls in diesem Land, das für Menschen wie sie und mich irgendwann keine Heimat mehr sein wird. Wenn es so weitergeht.
Wir überlegen, was wir tun werden. Bleiben oder gehen. Wir denken darüber nach. Ernsthaft. Und was könnte bedrückender sein, als der Gedanke, seine Heimat verlassen zu müssen. Nirgendwo zu sein, ist für viele, als würden sie nicht existieren.
Zu sein bedeutet, die Orte zu besuchen, an denen Leichen in Einkaufswagen geschoben werden, an denen geküsst und geweint wurde, an denen weniger passiert als an anderen Orten. „Zu sein“ bedeutet, in Ruhe gelassen zu werden, um die Veränderungen der Welt zu ertragen.