Friday, September 15, 2023

AfD in Thüringen: Im Land der wechselnden Mehrheiten

Frankfurter Allgemeine Zeitung AfD in Thüringen: Im Land der wechselnden Mehrheiten Artikel von Stefan Locke • 4 Std. Abgeordnete der AfD-Fraktion nach der Abstimmung über die Grunderwerbsteuer am Donnerstag in Erfurt Es ist nicht das erste Mal, dass am Donnerstag die AfD zum Zünglein an der Waage im Thüringer Landtag wird. Hauptursache dafür sind die seit der Landtagswahl 2019 komplizierten Mehrheitsverhältnisse im Parlament in Erfurt. Weil Linke und AfD gemeinsam mehr als die Hälfte aller Abgeordneten stellen und die CDU eine Zusammenarbeit sowohl mit der Linken als auch der AfD ausgeschlossen hat, gibt es keine Möglichkeit für eine Regierungsmehrheit. Das führte am 5. Februar 2020 dazu, dass der FDP-Politiker Thomas Kemmerich im dritten Wahlgang mit 46 Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Bodo Ramelow erhielt 44 Stimmen, während niemand für den Kandidaten der AfD – einen kurz zuvor über seine Kandidatur informierten Dorfbürgermeister – gestimmt hat. Die AfD-Fraktion hatte ihn, wie sie danach ausdrücklich zugab, lediglich als Strohmann aufgestellt, um dann geschlossen mit der CDU Kemmerich zu wählen und damit Rot-Rot-Grün zu überstimmen. Eine Absprache zwischen CDU, FDP und AfD gab es mutmaßlich nicht, wohl aber zahlreiche Warnungen im Vorfeld, die auf die Finte hinwiesen. Kemmerich bekam jedoch keine Regierung zusammen und trat wenige Tage später unter erheblichem Druck zurück. Einen Monat später wurde Ramelow ebenfalls im dritten Wahlgang, in dem sich die Mehrzahl der CDU-Abgeordneten enthält, wieder zum Ministerpräsidenten gewählt. Kurz darauf machte Ramelow öffentlich, den AfD-Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten des Landtags mitgewählt zu haben. Ramelow sagt, er habe nur den Parlamentsregeln entsprochen Er habe damit lediglich die Parlamentsregeln, nach denen der AfD dieser Posten zusteht, achten sowie die künftige Ernennung von Richtern und Staatsanwälten ermöglichen wollen, begründete Ramelow den Schritt. Zuvor hatte die AfD angekündigt, Personalvorschläge für die Richterwahlausschüsse so lange zu blockieren, bis ihr Kandidat gewählt sei. Der Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen fehlen vier Stimmen. Sie einigte sich deshalb mit der CDU-Fraktion auf einen sogenannten Stabilitätspakt für Thüringen. Die Union stimmt bei Vorhaben „im Interesse des Landes“ wie dem Haushalt zu. Zugleich vereinbarten beide Seiten Neuwahlen im darauffolgenden Jahr. Dazu kam es jedoch nicht, weil sich vier Abgeordnete der CDU der dafür nötigen Auflösung des Landtags verweigerten und daraufhin auch weitere Abgeordnete, unter anderem von der Linken, ankündigten, gegen eine Auflösung zu stimmen. In der Corona-Pandemie stimmten die CDU-Fraktion, die zur parlamentarischen Gruppe geschrumpfte FDP sowie die AfD-Fraktion mehrfach erfolgreich gegen Schutzverordnungen der rot-rot-grünen Landesregierung. Im November 2022 wurde die Regierung dann erstmals bei einem Gesetzesvorhaben von der Opposition überstimmt. Eine von der FDP beantragte Änderung des Spielhallengesetzes passierte mit Stimmen von CDU und AfD den Landtag. Die FDP begründete den Vorstoß mit mehr Rechtssicherheit, praktische Folgen hatte das laut Spielhallenverband jedoch keine. Selbstverpflichtung gegen das Gendern Im gleichen Monat hatte die CDU-Fraktion Erfolg mit einem Antrag, der das Gendern in öffentlichen Einrichtungen des Freistaats unterbinden soll. AfD, FDP und fraktionslose Abgeordnete stimmten in namentlicher Abstimmung dafür, während die rot-rot-grüne Koalition mit ihrem Änderungsantrag für eine „Selbstverpflichtung zu einer respektvollen Kommunikation“ unterlag. Unmittelbar rechtliche Folgen hatte das Ganze gleichwohl nicht, da der Antrag lediglich Appellcharakter besaß. Als der Thüringer Rechnungshof Anfang des Jahres der Regierung vorwarf, Stellen ohne Ausschreibung und mit nicht qualifizierten Bewerbern besetzt zu haben, forderten CDU und FDP einen Untersuchungsausschuss, um die Personalpolitik der Regierung unter die Lupe zu nehmen. Die wiederum zeigte sich prinzipiell einverstanden, überrumpelte Union und FDP jedoch mit einem Änderungsantrag, der auch die Personalpolitik der CDU-Vorgängerregierung einbezog. Dem wiederum stimmte die AfD zu und verhalf Rot-Rot-Grün damit zur Mehrheit. Als die CDU von einem „Dammbruch“ sprach Im März dieses Jahres verabschiedete der Landtag in Erfurt eine Änderung der Thüringer Kommunalordnung mit den Stimmen der Minderheitskoalition und der AfD. Es ging dabei um die Möglichkeit, Ausschüsse in Kommunalparlamenten auch öffentlich tagen zu lassen. Analog zu vorherigen Ereignissen sprachen nun CDU-Vertreter von einem „Dammbruch“. Ramelow wies das entschieden zurück. Der Vorwurf der Union sei „an Dreistigkeit und Schamlosigkeit nicht zu überbieten“. Auf die AfD sei es gar nicht angekommen, Rot-Rot-Grün habe vielmehr eine eigene Mehrheit gehabt, weil sich die FDP enthalten habe und obendrein mehrere CDU-Abgeordnete nicht im Plenarsaal gewesen seien. Am 14. September brachte die CDU dann einen Gesetzesantrag zur Senkung der Grunderwerbsteuer in den Landtag ein, der mit den Stimmen von AfD, FDP und fraktionslosen Abgeordneten verabschiedet wurde. Die Landesregierung kündigte an, gegen das Gesetz wegen verfassungsrechtlicher Bedenken Klage einzureichen.