Monday, September 4, 2023
Abstieg der deutschen Wirtschaft: „Wir brauchen eine Deindustrialisierung“
Berliner Zeitung
Abstieg der deutschen Wirtschaft: „Wir brauchen eine Deindustrialisierung“
Artikel von Simon Zeise •
1 Std.
Der Exportmotor stottert: Deutsche Autos werden im Ausland weniger nachgefragt. Produktion des VW ID.4 in Emden.
Dem deutschen Wirtschaftsmodell steht ein großer Umbruch bevor. Wegen der enorm gestiegenen Energiepreise im Zuge des Ukraine-Kriegs wird hierzulande das Gespenst der Deindustrialisierung heraufbeschworen. Den Titel des Exportweltmeisters hat die deutsche Wirtschaft bereits an China abgeben müssen. Im Juli sind die deutschen Ausfuhren erneut gesunken, im Jahresvergleich um ein Prozent, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitteilte.
Das auf einen starken Exportsektor orientierte Wirtschaftsmodell wird für Deutschland zunehmend zum Problem. Der Chefvolkswirt der ING-Bank, Carsten Brzeski, erklärte am Montag, die Exporte seien nicht länger der starke und widerstandsfähige Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft. Seit Anfang 2022 hätten die Ausfuhren vielmehr in vier von sechs Quartalen die Wirtschaft gebremst.
Deutschland hat sich die Industriestärke durch die Agenda 2010 teuer erkauft. Indem die Staatsausgaben und die Löhne gedrückt wurden, verschaffte sich die Bundesrepublik einen vorteilhaften realen effektiven Wechselkurs. Als Folge verkümmerte die Binnennachfrage und die deutsche Inflationsrate blieb im Ergebnis hinter jenen seiner wichtigsten Handelspartner zurück. „Über diesen Wettbewerbskanal absorbierte Deutschland so ausländische Nachfrage und überzog die Weltwirtschaft mit seinen Exportüberschüssen“, schreibt Martin Höpner, Politikwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in einem Beitrag für das Wirtschaftsmagazin Makroskop.
Das Wirtschaftsmodell kommt an seine Grenzen. Nun muss sich die deutsche Wirtschaft entscheiden: Soll sie die Exportindustrie stützen oder eine Umstrukturierung in Angriff nehmen? Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft sieht die Agenda 2010 als „beispiellose Erfolgsgeschichte“ und fordert eine Neuauflage. Heute, 20 Jahre nach den Reformen, drohe Deutschland erneut das Label „kranker Mann in Europa“. Der Fachkräftemangel erreicht stetig neue Höchstwerte und hat den Zenit noch lange nicht erreicht. Das IW fordert deshalb die Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden.
„Wir brauchen in Deutschland eine Deindustrialisierung“, sagt hingegen der Ökonom und Unternehmensberater Hermann Simon im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Hierzulande werde etwa ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes von der Industrie erwirtschaftet. In den USA sind es etwas mehr als zehn Prozent, in Frankreich und Großbritannien etwa zwölf Prozent. „Das passt nicht zusammen.“
An den alten Strukturen festzuhalten, sei der falsche Weg: „Überall dort, wo wir versucht haben, sterbende Branchen zu erhalten, haben wir Hunderte Milliarden in den Sand gesetzt und nichts an dem Trend geändert“, sagt Simon. „Wir haben auch in der Vergangenheit riesige Arbeitgeber verloren. Wir waren Weltmarktführer in der Kameraindustrie, bis Mitte der 60er-Jahre. Wir hatten den Bergbau, die Textilindustrie – alle sind verschwunden.“ Kurzfristig habe es den betroffenen Regionen zwar Probleme bereitet, langfristig sei es aber der richtige Schritt gewesen.
Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, müssten dringend Arbeitskräfte freigesetzt werden, die dann wiederum in neuen Wachstumsindustrien eingesetzt werden könnten. „Ich war kürzlich in Thüringen“, erzählt Simon. „Da beginnt der chinesische CATL-Batteriehersteller gerade mit der Produktion.“ Die Contemporary Amperex Technology Co. Limited (CATL) gehört zu den zehn größten Herstellern für Lithium-Ionen-Akkus. Vor wenigen Tagen teilte das Unternehmen mit, eine Superbatterie zu entwickeln, die in zehn Minuten aufgeladen sein und eine Reichweite von 400 Kilometern haben soll. „Bei CATL suchen sie 2000 qualifizierte Leute und finden sie selbst in Thüringen nicht“, sagt Hermann Simon.
Der Ökonom setzt große Hoffnungen auf die Kooperation mit chinesischen Unternehmen. „Wenn die Politik nicht allzu sehr querschießt, kommt eine Investitionswelle aus China auf uns zu“, sagt er. Auch das Engagement deutscher Unternehmen in China läuft sich warm. „Im letzten Jahr hatten wir deutsche Rekordinvestitionen in China.“ Nicht nur die großen Unternehmen Volkswagen oder BASF hätten dort gute Geschäfte gemacht, sondern auch zahlreiche Mittelständler ziehe es in die Volksrepublik. „Ich hoffe nur, dass die Bundesregierung nicht zu viel außenpolitisches Porzellan zerschlägt. Frau Baerbock schädigt mit ihrem aggressiven Kurs gegen China nicht nur die Interessen der deutschen Wirtschaft, sondern auch die Interessen Deutschlands insgesamt.“