Tuesday, July 11, 2023

Schweden als «stiller Partner eines autoritären Regimes»? – Nato-Beitritt löst im Land gemischte Gefühle aus

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Schweden als «stiller Partner eines autoritären Regimes»? – Nato-Beitritt löst im Land gemischte Gefühle aus Artikel von Linda Koponen • Vor 5 Std. Und dann kam es doch zum Handschlag. Der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson ist sichtlich erleichtert, als er spät am Montagabend in Vilnius vor die Medien tritt. Nach Monaten des Wartens – und als kaum jemand damit gerechnet hat – kann er endlich verkünden: Die Türkei hat zugestimmt. Schweden kann wohl doch in die Nato. Ganz sicher ist es noch nicht, denn der Händedruck von Recep Tayyip Erdogan reicht noch nicht aus. In einem nächsten Schritt muss das türkische Parlament Schwedens Gesuch ratifizieren. Und dann ist da noch Ungarn, das das Beitrittsbegehren ebenfalls blockiert hat. Doch die Zusage der Ungarn dürfte lediglich eine Formalität sein. Für Kristersson jedenfalls ist klar: «Es war ein guter Tag für Schweden.» Einfluss auf schwedische Innenpolitik? Es ist ein historischer Tag für Schweden, darin sind sich alle einig. Doch ist es auch ein guter Tag? In Schweden fällt die Freude bei vielen verhaltener aus. In den letzten Monaten war vor allem in den linken Oppositionsparteien eine zunehmende Skepsis gegenüber dem Prozess wahrnehmbar. Diese hat mit Erdogans Forderungen zu tun. Schweden soll die Türkei bei der Terrorismusbekämpfung stärker unterstützen und hat ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Konkret verlangt Erdogan die Auslieferung von Personen, die in der Türkei unter Terrorverdacht stehen. Dabei handelt es sich um Mitglieder der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die in der Türkei wie auch in der EU als Terrororganisation gilt. Schweden war lange ein Zufluchtsort für die Minderheit. Doch seit das neue Gesetz in Kraft ist, leben die Kurden in Angst. Die Vereinbarung mit der Türkei wurde in Schweden schon vor einem Jahr als «Ausverkauf demokratischer Werte» kritisiert. Märte Stenevi, die Sprecherin der Grünen, schreibt auf Twitter: «Der Prozess rund um den Nato-Beitritt Schwedens wurde vom ersten Tag an peinlich schlecht gehandhabt, was Erdogan und der Türkei unangemessenen Einfluss auf die schwedische Innenpolitik verschafft hat.» Mit Bedauern stelle sie fest, «dass Schweden nicht länger eine Stimme für Freiheit und Demokratie ist, sondern ein stiller Partner eines autoritären Regimes». Der schwedische Türkei-Experte Michael Sahlin sagt in einem Interview mit Sveriges Radio, er habe gemischte Gefühle gegenüber dem Abkommen mit der Türkei, solange die Öffentlichkeit keinen Einblick bekomme, was genau vereinbart worden sei. Bezogen auf die Intransparenz des Prozesses verweist Sahlin auch auf die letzte Forderung Erdogans vom Montagnachmittag: Der türkische Präsident hatte die Nato-Mitgliedschaft Schwedens plötzlich an neue EU-Beitritts-Gespräche der Türkei geknüpft. Wenige Stunden später sagte Ulf Kristersson an der Medienkonferenz, dass er eine Annäherung der Türkei an die EU begrüsse. Dass Schweden den EU-Beitritts-Versuch der Türkei aktiv unterstützen müsse, sieht Sahlin kritisch. Bei den anderen Mitgliedsstaaten sei das bestimmt nicht unumstritten. Probleme mit neuem Selbstbild Der Beitritt Schwedens zur Nato bedeutet für das Land eine Zäsur. Abrüstung und Kampf gegen Atomwaffen waren lange zentraler Bestandteil der schwedischen Aussenpolitik. Noch im November 2021 lehnte der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist einen Nato-Beitritt kategorisch ab: «Ich werde mich auf keinen Fall, solange ich Verteidigungsminister bin, an einem solchen Prozess beteiligen. Das kann ich jedem garantieren.» Nur drei Monate später, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, vollzogen die Sozialdemokraten eine Kehrtwende. Unter der damaligen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson leitete das Land den Beitritt zur Nato ein. Mit dem Beitritt zu dem Verteidigungsbündnis fusst die schwedische Verteidigungspolitik nun auf der nuklearen Abschreckung. Am Montagabend zeigte sich Andersson ebenso erfreut über Erdogans Zusage wie ihr bürgerlicher Nachfolger Kristersson. Auf Twitter schrieb sie: «Es ist eine wichtige und willkommene Ankündigung für unser Land. Jetzt freuen wir uns darauf, dass sowohl die Türkei als auch Ungarn schnell ratifizieren.» Anders als Kristersson und Andersson tun sich viele Schwedinnen und Schweden am Tag nach dem Entscheid schwer mit dem veränderten Selbstbild. Ein Journalist der grössten Zeitung des Landes, «Dagens Nyheter», kommentiert: «Mit dem Beitritt zur Nato betrat Schweden eine Welt, in der Sicherheitsinteressen manchmal Vorrang vor Demokratie haben.» Vor dem Nato-Gesuch habe Schwedens offizielle Linie darin bestanden, die demokratischen Kräfte in der Türkei zu unterstützen und die Menschenrechtsverletzungen im Land zu kritisieren. Nach dem Nato-Gesuch hätten sowohl Magdalena Andersson als auch Ulf Kristersson die Türkei als «Demokratie» bezeichnet, weil im Land immer noch Parlamentswahlen stattfänden. «Der schwedische Wunsch, der Türkei zu gefallen, hat die schwedische Meinungsfreiheit unter Druck gesetzt.» Sicherheitspolitischer Gewinn für das Baltikum Für die Nato ist Schwedens Beitritt unbestritten ein Gewinn. Die Ostsee ist damit bis auf zwei Streifen vor St. Petersburg und Kaliningrad umringt von Nato-Staaten. Die strategisch wichtige schwedische Ostseeinsel Gotland – ein nicht versenkbarer Flugzeugträger – wird zu Nato-Territorium. Russland hat seinen Einfluss in der Region bereits seit dem Zerfall der Sowjetunion markant eingebüsst – aber nicht komplett verloren. Nun werden Schweden und Finnland in die gemeinsame Verteidigungsplanung des Bündnisses einbezogen und können Informationen einfacher austauschen. Insbesondere für die baltischen Staaten ist das ein bedeutender sicherheitspolitischer Gewinn. Eingeklemmt zwischen Russland, Weissrussland und der Ostseeküste, befanden sich Estland, Lettland und Litauen lange in einer sicherheitspolitisch exponierten Lage. Da sie nur über eine kurze Grenze (die sogenannte Suwalki-Lücke) mit Polen und dem zentraleuropäischen Nato-Gebiet verbunden waren, galten sie als sehr schwer zu verteidigen gegen eine Aggression aus dem Osten. Diese Aufgabe wird nun einfacher, da die Bündnispartner den Balten auch von Norden zur Hilfe eilen könnten. Entsprechend erfreut fallen die Reaktionen im Baltikum aus. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas und ihr lettischer Kollege Krisjanis Karins tun ihre Freude auf Twitter kund. Kaja Kallas schreibt: «Grossartige Neuigkeiten vor dem Start des Nato-Gipfels in Vilnius. Die Nato wird noch stärker.» Doch erst einmal müssen die Einzelheiten der Vereinbarung zwischen der Türkei und Schweden ausgearbeitet werden. Danach steht die Ratifizierung durch das türkische Parlament an. An der Medienkonferenz am Montagabend betonten sowohl Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg als auch Ulf Kristersson, dass es schnell gehen solle. Schnell geschah in dem Prozess allerdings bisher noch nichts.