Monday, July 10, 2023

Nato-Beitritt Schwedens: Von Erdoğans Gnaden

ZEIT ONLINE Nato-Beitritt Schwedens: Von Erdoğans Gnaden Artikel von Rieke Havertz • Vor 2 Std. Vor dem Gipfel in Vilnius stellt der türkische Präsident neue Forderungen, um Schwedens Nato-Beitritt zuzustimmen. Das ist nicht nur für das Militärbündnis ein Problem. Recep Tayyip Erdoğan hat diverse Forderungen, die er erfüllt sehen möchte, bevor er Schwedens Nato-Betritt zustimmt. Recep Tayyip Erdoğan fällt immer wieder etwas Neues ein. Warum auch nicht, wird er sich denken. Denn der türkische Präsident hat, was die Nato dringend braucht: eine entscheidende Stimme in der Frage, ob Schweden dem Militärbündnis endlich beitreten kann. Ein Beitrittskandidat braucht die Zustimmung aller 31 Nato-Mitglieder. Und so pokert Erdoğan seit Mai 2022 um den Preis für diese Stimme. Damals hatte Schweden, gemeinsam mit Finnland, als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine seine jahrzehntelange Bündnisneutralität aufgegeben und einen Nato-Beitritt angestrebt. Erst ging es bei diesem Poker für Erdoğan um Terrorbekämpfung, immer auch um Kampfjetlieferungen und nun auf einmal um EU-Beitrittsverhandlungen. "Öffnet erst den Weg für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, und dann öffnen wir den Weg für Schweden", sagte Erdoğan vor dem am Dienstag in Vilnius beginnenden zweitägigen Nato-Gipfel. Diese Forderung, fuhr der türkische Präsident fort, werde er in Vilnius deutlich machen. Die EU hatte 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen. Seit 2018 werden diese aber unter anderem aufgrund Erdoğans Umgang mit Oppositionellen seit dem Putschversuch im Jahr 2016 nicht weiter verfolgt. Erdoğans Aussagen sind ein Problem für das Militärbündnis, das formal mit EU-Beitrittsverhandlungen nichts zu tun hat. Aber der türkische Präsident weiß, dass die Nato Schwedens potenzielle Mitgliedschaft nicht aufgeben kann und wird, weshalb er das Bündnis und seine Mitgliedstaaten vor sich her treiben kann. Zu wichtig ist aus Sicht des Westens das Signal, das mit Finnlands und Schwedens Beitritt an Wladimir Putin gesendet werden soll: ein Bündnis, das stärker und geschlossener ist denn je und das seine nordöstliche Außengrenze erweitert – also Putin genau das entgegensetzt, was der nicht wollte. Finnland ist seit April Nato-Mitglied Nummer 31, Schweden sitzt in Vilnius nach wie vor nur als "Invitee" am Tisch, als geladener Gast, der aber noch nichts zu sagen hat. Dabei sah es auf dem letzten Nato-Gipfel in Madrid im Juni vergangenen Jahres noch ganz gut aus mit der Erweiterung um die zwei nordischen Länder, die militärstrategisch im Angesicht der neuen geopolitischen Bedrohungslage nicht nur symbolisch wichtig ist, sondern die Nato auch faktisch besser aufstellt. Allein Finnland teilt sich mit Russland eine mehr als 1.300 Kilometer lange Grenze. In Madrid ließ Erdoğan sich ein "Ja, aber …" abringen. Schweden, so hieß es damals, könne Mitglied werden, wenn das Land seine Antiterrorgesetze verschärfen würde. Der türkische Präsident behauptet, Schweden würde die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG unterstützen. Schweden ließ sich auf den Deal ein und kam Erdoğans Wünschen nach. Das Land hat seine Antiterrorgesetze geändert und außerdem ein Waffenembargo gegen die Türkei aufgehoben. "Schweden unterstützt die Türkei uneingeschränkt gegen alle Bedrohungen ihrer nationalen Sicherheit und verurteilt alle terroristischen Organisationen, einschließlich der PKK, die Anschläge gegen die Türkei verüben", schrieb Schwedens Premierminister Ulf Kristersson Ende Mai in einem Gastbeitrag für die Financial Times. Subtext: Wir haben geliefert, nun kann auch die Türkei liefern. Zumal Erdoğan Ende Mai erneut gewählt worden war und nicht mehr Wahlkampf machen muss. Neben der Türkei, das muss erwähnt werden, hat auch Ungarn dem Beitritt Schwedens noch nicht zugestimmt, doch sollte die Türkei das Go geben, wird auch Viktor Orbáns Regierung laut Bloomberg nicht mehr Nein sagen. Liefern die USA F-16-Kampfjets? Der Gipfel in Vilnius wäre für Erdoğan wie für die Nato ein perfekter Rahmen mit maximaler Aufmerksamkeit gewesen, dieses Go zu verkünden. Auch aus der deutschen Regierung hörte man noch an diesem Montag, vor einem Treffen zwischen Schweden, der Türkei und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Vilnius, dass aus deutscher Sicht alle Bedenken Erdoğans gegen den Beitritt ausgeräumt worden seien. Das Ziel müsse sein, auf dem Gipfel etwas verkünden zu können. Auch deshalb hatte US-Präsident Joe Biden noch in der vergangenen Woche Kristersson in Washington, D.C., getroffen und mit Erdoğan telefoniert. In der Rhetorik der Diplomaten formuliert, ließ das Weiße Haus im Anschluss mitteilen, Biden habe seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass Schweden so schnell wie möglich Nato-Mitglied werde. Über mögliche Lieferungen von F-16-Kampfjets, die der türkische Präsident gern von den Vereinigten Staaten hätte, wurde nichts weiter bekannt, aber Biden hatte zuvor in einem Interview mit CNN seine Bereitschaft wiederholt, zu einer Einigung zu gelangen. "Die Türkei sucht nach einer Modernisierung von F-16-Flugzeugen und Mitsotakis in Griechenland sucht ebenfalls nach Hilfe", sagte Biden. Hintergrund ist, dass Griechenlands Regierung um Ministerpräsident Mitsotakis Garantien verlangt, dass die Türkei F-16-Kampfjets im Rahmen des andauernden Seestreits in der Ägäis nicht gegen Athen einsetzen wird. "Ich versuche also, offen gesagt, ein kleines Abkommen zu schließen, mit dem wir die Nato in Bezug auf die militärischen Kapazitäten sowohl Griechenlands als auch der Türkei stärken und Schweden die Möglichkeit geben, sich zu beteiligen. Aber es ist alles im Fluss", sagte Biden. Außerdem kann der US-Präsident das auch nicht ganz allein entscheiden, denn der US-Kongress hat ein Veto-Recht gegen einen Verkauf der Jets. Mit möglichen Sicherheitsgarantien für Griechenland wäre aber auch dieser Wunsch des türkischen Präsidenten womöglich in Vilnius in Erfüllung gegangen. Und nun, nach allen diplomatischen und politischen Bemühungen, das leidliche Thema von Schwedens Nato-Beitritt zu beenden, folgt Erdoğans EU-Volte. Beim Treffen in der litauischen Hauptstadt werden auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel dabei sein. Ein Rahmen für EU-Beitrittsfragen ist der Gipfel dennoch nicht. Schließlich werden auch Vertreter aus dem Asienpazifikraum dabei sein, ebenso womöglich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Neben der Schweden-Frage ist die Unterstützung der Ukraine und die Debatte um eine mögliche Nato-Mitgliedschaft des Landes zentrales Thema in Vilnius. Geplant sind zudem eine Reihe von bilateralen Treffen, auch Bundeskanzler Olaf Scholz wird wohl mit dem türkischen Präsidenten zusammenkommen. Es gebe eine Vielzahl an gemeinsamen Interessen zwischen der EU und der Türkei, hieß es am Montag vor Erdoğans Aussagen aus Regierungskreisen, daraus ergebe sich eine "vorwärtsgerichtete Agenda". Scholz sagte als Reaktion auf die Forderungen aus der Türkei, Schwedens Nato-Beitritt und die Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses hätten nichts miteinander zu tun. "Deshalb, finde ich, sollte man das nicht als ein zusammenhängendes Thema verstehen." Erdoğan sieht das offensichtlich anders. Er zwingt dem Nato-Gipfel in Vilnius seine Agenda auf – und macht es einmal mehr kompliziert.