Monday, May 2, 2022
Ukrainische Flüchtlinge: „Einwanderung hört nie auf, wenn sie begonnen hat“
Berliner Zeitung
Ukrainische Flüchtlinge: „Einwanderung hört nie auf, wenn sie begonnen hat“
Nadire Biskin und Eva Corino - Gestern um 22:15
Nach ersten Schätzungen leben jetzt 25.000 ukrainische Flüchtlingskinder in Berlin. Wie soll die Stadt mit dieser großen Herausforderung umgehen? Wir haben Menschen gefragt, die sich mit Integration auskennen –aus eigener Erfahrung, durch ihr Nachdenken und berufliches Handeln: sieben Fragen für eine bessere Integration. Hier antwortet Nadire Biskin, Lehrerin einer Willkommensklasse in Kreuzberg.
1. Können die ukrainischen Kinder auf beides vorbereitet werden – auf die Rückkehr in ihr Heimatland und ein mögliches Leben in Deutschland?
Eine Rückkehr im klassischen Sinne wird es nicht geben, weil nichts mehr wie vorher sein wird. Daher ist es schwierig, die Schüler:innen auf die Rückkehr vorzubereiten. Gleichzeitig ist der Gedanke auch nicht unbedingt gastfreundlich. Man dreht die Schuhe des Gastes an der Tür nicht um, sobald er sie ausgezogen hat. Wir können nur unser Bestes geben als Gesellschaft, um die aus der Ukraine kommenden Kinder wie alle anderen Kinder auf das Leben vorzubereiten. Und wir können hoffen, dass sie wie alle anderen geflüchteten Kinder seelische Unterstützung erhalten.
2. Sollten alle geflüchteten Schulkinder in Willkommensklassen gehen?
Eine fundierte Antwort würde hier zu viel Platz einnehmen. Es muss jedenfalls Kriterien geben. Sinn und Zweck der Willkommensklassen müssen philosophisch-gesellschaftlich durchdacht, die Wirkung evaluiert werden und an entsprechenden Stellen schnell nachgebessert werden. Was auf keinen Fall sein darf, ist, dass die Landesherkunft darüber entscheidet, wer in die Willkommensklasse kommt und wer nicht. Ist das nicht rassistisch? Schon allein die Vorstellung, alle Kinder eines Landes seien auf dem gleichen Lernstand, ist sehr verallgemeinert. Solche Ungleichheiten kann ich meinen Schüler:innen gegenüber schwer vertreten oder erklären.
3. Wenn Sie Berlins Bildungssenatorin wären, was würden Sie jetzt tun?
Schwer vorstellbar, aber ich denke, wie in jedem anderen Beruf ist Demut wichtig und eine gewisse Offenheit, um ganz viel dazuzulernen. Denn nur mit genügend Wissen kann man die „richtige“ Entscheidung treffen. Ich würde mich mit vielen Akteuren zusammensetzen, unter vier Augen und dann nochmal an einem großen Tisch – seien es Schüler:innen, Lehrende, Wissenschaftler oder Erziehungsberechtigte. Alle tragen zum schulischen Erfolg bei, also ist es sinnvoll, sich ihre Äußerungen anzuhören und in die Entscheidung einfließen zu lassen.
4. Wie können wir mehr Räume gewinnen und mehr Menschen, die erziehen und unterrichten?
Eine Wertschätzung von Seiten des Sentas oder der Schulleitung wäre sicherlich ein erster Schritt. Gleichzeitig ist das Kollegium auch sehr wichtig, man denke nur an die kollegiale Fachberatung, die zum Alltag der Lehrkräfte gehört. Häufig wird – genau wie zu Zeiten meines Studiums in Berlin – um angehende Lehrkräfte mit diversen Hintergründen geworben. Möchte man, überspitzt gesagt, keine Gastarbeiter:innenschaft, dann muss der Raum Schule auf Lehrer:innen mit diversen Hintergründen vorbereitet werden, damit sie sich wohler fühlen. Es sollte eine Art Barrierefreiheit geben. Kleinere Klassen und generell eine Arbeitsentlastung wären da vernünftig. Dann bräuchte man keine großen Plakate mehr an den Bahnhöfen, ein gutes Arbeitsklima, ein guter Arbeitgeber, das spricht sich schnell rum.
5. Was sind Ihre persönlichen Berührungspunkte mit dem Thema „Einwanderung“?
Ich liebe Menschen mit Einwanderungsgeschichte, bin mit ihnen befreundet, ich lerne von ihnen, arbeite mit ihnen zusammen, ich unterrichte sie. Deshalb habe ich auch meinen ersten Roman den Lehrer:innen ndH und Schüler:innen ndH gewidmet, ndH ist eine dieser bürokratischen Abkürzungen und bedeutet: nicht-deutsche Herkunftssprache. Ausgewandert bin ich noch nie, habe höchstens Kurztrips unternommen vom Rand in die Mitte der deutschen Gesellschaft. Jedoch habe ich eine Familie, die nach Deutschland eingewandert ist. Die Einwanderung hört aber irgendwie nie auf, wenn sie einmal begonnen wurde. Daher nennt man mich hier Mensch mit (türkischem) Migrationshintergrund.
6. Gibt es schon ukrainische Kinder in Ihrem Umfeld? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
An meiner Schule und in meiner Willkommensklasse gibt es noch keine. Doch sehe ich eine große Vorbereitung und Solidarität in meinem privaten und beruflichen Umfeld und zwar von Anfang an. Deutschland kann das ja doch! Wie schön! Und zugleich wie traurig: Alle Kinder mit Fluchthintergrund brauchen die gleiche Zuwendung. Wie spricht man diese Ungleichheit am besten an und ist trotzdem solidarisch?
7. Worauf müssen wir achten, damit Integration wirklich gelingt?
Zunächst einmal auf unsere Wortwahl. Integration impliziert eine Andersartigkeit, aufgrund einer Identitätskategorie, die quasi für immer bleibt. Inklusion hingegen bedeutet, wir sind alle unterschiedlich in einer Gesellschaft und somit haben wir schon mal eine Gemeinsamkeit. Solche Konzepte klingen abstrakt, aber darauf aufbauend wird vieles entschieden, unsere Gesellschaft und Chancengleichheit strukturiert. Wir sollten uns selbst in eine faire inklusive Gesellschaft einbinden.