Monday, May 2, 2022

Waffenlieferungen: Der französische Waffenstolz

ZEIT ONLINE Waffenlieferungen: Der französische Waffenstolz Annika Joeres - Gestern um 15:38 Während Waffenlieferungen an die Ukraine in Deutschland umstritten sind, werden sie in Frankreich fast gefeiert. Die Rüstungsindustrie hat dort einen anderen Stellenwert. Als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Wochenende in Schleswig-Holstein mit Sirenengeheul und Rufen wie "Kriegstreiberin" und "Lügnerin" bedacht wurde und schließlich sogar eine Veranstaltung wegen des beißenden Geruchs von Buttersäure abgesagt werden musste, rieb man sich in Frankreich verwundert die Augen: Gegen Waffenlieferungen an die Ukraine demonstriert hier kaum jemand. Seit Wochen ist bekannt, dass das Land auch schwere Artillerie und Panzerabwehrraketen liefert – Präsident Emmanuel Macron hatte das nahezu beiläufig in einem Interview mit einer Regionalzeitung verkündet. In Frankreich sind das Militär und die Waffenindustrie in der Bevölkerung höher angesehen als in Deutschland – und das bereits lange vor dem Ukrainekrieg. In Umfragen vom vergangenen Sommer haben fast neun von zehn Französinnen und Franzosen ein "gutes oder sehr gutes Bild" von der französischen Armee. In Deutschland sind es deutlich weniger. Das weiß man auch in Frankreich: Die Lieferung deutscher Panzer und anderer schwerer Waffen an die Ukraine werden auch hier als "Zeitenwende" gewertet. In zahlreichen Zeitungsartikeln ist von einem speziellen "deutschen Pazifismus" die Rede, der inzwischen "überwunden" sei. "Die Waffenindustrie konnte mit dem Ukrainekrieg ihr Image aufpolieren", schreibt die größte Pariser Tageszeitung "Le Monde". Sie seien zuvor "ungeliebte Schurken" gewesen, unbeliebt sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung. Ausdauernd loben französische Politiker die heimische Militärtechnik. Jeder Export wird als wirtschaftlicher Erfolg gefeiert, wie etwa die Ausfuhr von Traktoren oder Luxusparfums. Die Hauptnachrichten sind voller Berichte über Politiker – und auch Bürgerinnen und Bürger –, die sich über entgangene Rüstungsgeschäfte ärgern. Als Australien im vergangenen Herbst einen Vertrag über zwölf französische U-Boote aufkündigte, inszenierten französische Politiker öffentlich ihre Empörung. Dabei war Frankreich auch ohne diesen Deal laut dem schwedischen Internationalen Friedensforschungsinstitut SIPRI der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt: Nur die USA verkaufen mehr Panzer, Raketen und Militärjets in alle Welt. Damit hat Frankreich nun auch Russland überholt. Das Land hat in Sachen Rüstungsexporte enorm zugelegt, heute sind es 72 Prozent mehr als noch 2019. "Die französische Armee hat von der Nachfrage in Ägypten, den Arabische Emiraten, Quatar und Indien profitiert", sagt Diego Lopes Da Silva, Forscher am SIPRI-Institut. Er beobachte einen "dramatischen Zuwachs". Laut SIPRI steht Deutschland an sechster Stelle, mit rund einer Billionen Euro Handelswert verkauft die Bundesrepublik viermal weniger als Frankreich. Kritisch diskutiert werdend die französischen Rüstungs-Profite jedoch nur selten. Im Gegenteil: "Ein fabelhaftes Jahr" titelten die Wirtschaftszeitungen über Frankreichs Militärdeals 2021 im Wert von 28 Milliarden Euro. Ein "großer Erfolg", der "frühere Rekorde breche", schreibt die Wirtschaftszeitung La Tribune, und steigert sich in eine wahre Begeisterung hinein. Mit Ägypten sei "ein Jahrhundertvertrag" gelungen, mit dem gesamten Export ein "Himalaya-Gipfel" erstürmt worden. Dass das autoritär regierte Ägypten zu den Ländern zählt, in denen laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in Gefängnissen gefoltert wird, findet keinen Niederhall in den Medien. "Frankreich kompensiert seit 2010 seine ökonomischen Probleme mit höheren Militärausgaben und immer größeren Konzessionen an Diktaturen, um seine Waffen zu verkaufen", sagt der Ökonom Claude Serfati. Seit fünf Jahren steigt das Budget für die Armee an, 2022 soll es rund 40 Milliarden Euro betragen. "Frankreich muss überall intervenieren können, wo es um seine Interessen geht", sagt Verteidigungsministerin Florence Parly. Auch die Wahlprogramme der Kandidatinnen und Kandidaten für die Präsidentschaftswahl lasen sich zeitweise wie Kataloge der Rüstungsindustrie: Die in die Stichwahl eingezogene Rechtspopulistin Marine Le Pen schwärmte in ihrem Programm von Flugzeugen und Drohnen, Panzern, schwerer Artillerie und Meeresfregatten, um Frankreich "souverän zu verteidigen." Und forderte zugleich, "militärischen Stolz ohne Scham" ein. Dazu gehörten mehr Unterricht mit Militärgeschichte an Schulen und nationale Feiertage zu gewonnenen Schlachten. Auch Präsident Emmanuel Macron, der als Sieger aus der Wahl hervorging, warb für sich mit 60 neuen Jagdflugzeugen Rafale, fünf neuen Atom-Ubooten, 1250 Panzerfahrzeugen und elektromagnetischen Waffen. Im internationalen "Friedensindex", der Militarisierung, Waffenexporte und militärische Interventionen misst, landet Frankreich meist auf dem letzten Platz aller europäischen Staaten, 2021 war es die 55. Stelle. Deutschland liegt auf dem 17. Platz. Auch die Atomwaffen, die Frankreich nach dem Brexit nunmehr als einziges Land in der EU hat, trugen zu dieser niedrigen Platzierung bei. Zur französischen Rüstungsgeschichte gehörten auch Atomwaffenversuche – die meist im Ausland härter kritisiert wurden als im Inland. Schon Anfang der 1960er Jahre befahl der damalige Präsident und heute noch heldenhaft verehrte Charles de Gaulle Atomwaffen-Tests in der algerischen Sahara-Oase Reggane, wenige Jahre später wurden die Tests in den Südpazifik verlegt – noch heute leiden die Bewohner des dortigen Mururoa-Atolls unter den Folgen des radioaktiven Fallouts. Die Tests sind inzwischen offiziell eingestellt worden. Frankreich will 25 Milliarden Euro bis 2023 in die Modernisierung seiner atomaren Sprengköpfe investieren. Sechs U-Boote mit Atomraketen sind im westfranzösischen Brest stationiert, die Flugzeuge mit atomarem Sprengstoff könnten von dem Flugzeugträgerschiff Charles de Gaulles aus starten. "Die Bombe ist der Eckpfeiler unser französischen Verteidigungsstrategie", sagt Ministerin Parly. Durch ihre bloße Existenz trage sie "zur atlantischen Sicherheit und zur Sicherheit Europas bei". Die linken Insoumis, die größte linke Partei Frankreichs, will nicht an dieser Straegie festhalten. Allerdings nicht aus pazifistischen, sondern aus technischen Gründen: Die Atombomben könnten inzwischen vor ihrer Explosion abgeschossen werden – und würden damit die französische Sicherheit gefährden.