Sunday, May 29, 2022
«Wir kennen die Routen deiner Patrouillen!» Im russisch besetzten Südosten der Ukraine ist ein Partisanenkrieg entbrannt
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
«Wir kennen die Routen deiner Patrouillen!» Im russisch besetzten Südosten der Ukraine ist ein Partisanenkrieg entbrannt
Ivo Mijnssen, Wien - Gestern um 15:55
Seit drei Monaten herrscht Krieg in der Ukraine, und die Bilanz ist für die russischen Invasionstruppen äusserst durchzogen. Während sich die Armee fluchtartig aus der Hauptstadtregion zurückziehen musste und im Donbass nur schrittweise vorrückt, ist es ihr kurz nach dem Überfall gelungen, weite Teile der Gebiete an der Schwarzmeerküste zu erobern.
Doch die Absicherung des Landraubs gestaltet sich schwierig. Verantwortlich dafür ist neben der dynamisch verlaufenden südlichen Frontlinie die Tätigkeit von Untergrundkämpfern in Gebieten unter russischer Kontrolle – und vereinzelt sogar in Russland selbst. Besonders aktiv sind die Saboteure und Guerillas in den Regionen Cherson und Saporischja.
Bomben und Propaganda
So verübten Unbekannte am letzten Sonntag einen spektakulären Sprengstoffanschlag auf den von den Besatzern eingesetzten Bürgermeister von Enerhodar, wo das Atomkraftwerk Saporischja steht. Er wurde zusammen mit seinen Leibwächtern schwer verletzt. Aus Melitopol meldet der ukrainische Geheimdienst, Partisanen hätten seit Kriegsbeginn mindestens siebzig russische Soldaten getötet.
Im Gebiet von Cherson sind Plakate aufgetaucht, die zeigen, wie ein Zivilist einen russischen Soldaten ersticht, versehen mit der Warnung: «Mach dich bereit! Wir kennen die Routen deiner Patrouillen!» Hier ist die Rede von achtzig Getöteten. Mindestens zwei prorussische Blogger wurden in ihren Autos von Unbekannten erschossen. Dazu kommen zahlreiche Berichte über Angriffe gegen Nachschubrouten und Kommandostellen.
Viele dieser Meldungen sind propagandistisch überhöht und schwierig nachzuprüfen, zumal die russische Seite Angriffe nur in Einzelfällen konkret bestätigt, etwa jenen gegen den Bürgermeister. Dennoch berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti immer wieder über Operationen gegen «Diversanten des ukrainischen Geheimdienstes» und Versuche Kiews, Panik in der Bevölkerung zu säen. Auch gab es grossangelegte Strassenkontrollen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Anschlägen. Zudem erging eine Warnung an die eigenen Soldaten, vor «Terroranschlägen» auf der Hut zu sein.
Ebenfalls auffallend ist die relativ grosse Zahl von Truppen, die in eroberten Städten zur Sicherung der Lage zurückbehalten werden. In Cherson meldeten die Besatzungsbehörden Mitte Mai, zur Niederschlagung eines angeblich vom ukrainischen Geheimdienst angestachelten Gefangenenaufstandes und zur «Stabilisierung der Situation» habe man ein grösseres Detachement Militärpolizei anfordern müssen.
Friedlicher und bewaffneter Widerstand
Klar ist, dass die Besatzer in der lokalen Bevölkerung wenig Unterstützung geniessen. Der Schock darüber, nicht als Befreier empfangen zu werden, sitzt bei den Russen seit Februar tief. Die Bilder der Ukrainerinnen und Ukrainer, die demonstrierend und mit improvisierten Sperren die vorrückenden Panzer blockierten, gingen um die Welt. Regelmässig tauchen bis heute Graffiti auf. Die Organisation wirkt zwar oft spontan, doch Kiew setzte auch auf digitale Kanäle, um Informationen zu verteilen: So finden sich auf der Website des vom Militär gegründeten Zentrums für den nationalen Widerstand Anweisungen für friedliche wie bewaffnete Aktionen.
Auf der militärischen Ebene wurden Vorbereitungen für einen Partisanenkrieg bereits vor Februar aufgenommen. Gegenüber dem Portal «Nowoe Wremja» erklärte der bekannte ehemalige Donbass-Kämpfer Wolodimir Schemtschugow, der Staat habe Untergrundkämpfer in den besetzten Gebieten nach der Krim-Annexion 2014 bis 2019 unterstützt. Kurz nach dem neuerlichen Kriegsbeginn dieses Jahr seien die Programme wieder aufgenommen worden. Eine tragende Rolle spielten dabei die ukrainischen Spezialeinheiten, die auch zu den grössten Empfängern westlicher Militärhilfe gehörten.
Ihre Ausbildung erfolgte sowohl in der Ukraine durch den britischen Special Air Service als auch in den USA. Die Lieferungen tragbarer Waffen gegen Panzer und Flugzeuge vor und nach Beginn der Invasion erfolgte teilweise unter der Annahme, die ukrainische Armee werde rasch kollabieren, worauf ein Partisanenkrieg folgen könnte.
Zwar hatten die Kämpfe der ersten Phase des Kriegs in den unübersichtlichen Wäldern und Sümpfen rund um Kiew zuweilen Merkmale eines solchen asymmetrischen Konflikts, doch die russischen Besetzer brachten das Gebiet nur kurzfristig unter ihre Kontrolle. Der Kampf im Untergrund spielt sich nun stattdessen in südlicheren Gebieten ab, wo die Vegetation deutlich spärlicher ist.
Partisanenkrieg in der Steppe
Was dies für dessen Erfolgsaussichten bedeutet, wird unterschiedlich bewertet. Schemtschugow hält die Bedingungen für günstig, «beispielsweise in der Region Cherson, wo es keine Frontlinie gibt, man Waffen liefern kann und wo Veteranen des Donbass-Krieges leben». Überrascht klang hingegen der Präsidentenberater Alexei Arestowitsch: «Die verbreitete Meinung war, dass ein Partisanenkrieg im Süden unmöglich sei», liess er Mitte Mai verlauten. «Alle sagten, dass man sich in der Steppe nirgends verstecken und nichts tun könne. Aber die Partisanen können es, und sie tun etwas.»
Eine von der lokalen Bevölkerung improvisierte Strassensperre im Gebiet Saporischja. Dominic Nahr / NZZ
Von einer breiten Partisanenbewegung kann laut Arestowitsch allerdings keine Rede sein. Vielmehr seien es «gezielte Schläge», die ausgeführt würden. Gerade in Frontnähe sind Angaben lokaler Informanten über russische Truppenbewegungen wichtig für die ukrainische Armee. Zudem sickern wohl Spezialeinheiten immer wieder in Städte im Südosten ein: Eine solche Operation soll etwa für die Zerstörung zahlreicher russischer Jets und Helikopter auf einem Flughafen bei Cherson verantwortlich sein, möglicherweise in Koordination mit Artilleriebeschuss.
Dennoch stellt sich nach drei Monaten Besetzung die Frage, wie lange der Widerstand aufrechterhalten werden kann. So verspricht der ukrainische Generalstab zwar weiterhin eine Gegenoffensive, um die verlorenen Gebiete im Süden zurückzuerobern, und in den letzten Tagen haben die Artillerieangriffe wieder zugenommen. Er macht aber klar, dass die Kämpfe noch Monate dauern können.
Gleichzeitig steigt der Druck auf die Bevölkerung in den besetzten Gebieten – durch Razzien, Verhaftungen und Folter, durch die Kriminalisierung von friedlichem Widerstand und die Vertreibung von Kritikern. Andere haben ihre Lebensgrundlagen verloren und werden von den Russen abhängig, um zu überleben. Zunehmend betonen die Besatzer ihren Willen, die «Stabilität» zu sichern und das Alltagsleben wiederherzustellen – integriert in die wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen Russlands. So gilt seit Anfang Mai der Rubel in Cherson als Zahlungsmittel.
Ob Zuckerbrot und Peitsche allerdings ein Ersatz für Loyalität sind, bleibt zweifelhaft. Moskau machte bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Erfahrung, dass ukrainische nationalistische Partisanen bereit sind, sogar auf verlorenem Posten weiterzukämpfen: Sie lieferten den sowjetischen Truppen ein Jahrzehnt lang heftige Kämpfe, in denen fast 200 000 Menschen ums Leben kamen, unter ihnen über 150 000 Guerilleros und mutmassliche Unterstützer. Heute ist das Nationalbewusstsein noch stärker geworden, und die Regierung in Kiew ist durchaus bereit, dieses blutige Erbe zu zitieren, um den Widerstandsgeist im Südosten wachzuhalten.