Wednesday, December 4, 2024
Regierungskrise in Frankreich: Barnier geschlagen, Macron wackelt
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Regierungskrise in Frankreich: Barnier geschlagen, Macron wackelt
Stefan Brändle • 1 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Misstrauensvotum
Die französische Regierung von Premier Barnier könnte heute durch das Parlament gestürzt werden. Präsident Macron verliert zunehmend die politische Kontrolle. Eine Analyse.
Paris – Es war ein letzter, dramatischer Appell an die Vernunft der Abgeordneten: Sie sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein und an das übergeordnete Interesse der Nation denken, mahnte Michel Barnier am Dienstagabend bei den wichtigsten Fernsehsendern. „Die Situation ist ernst“, sagte der konservative Regierungschef. „Wir müssen aufpassen, denn es gibt starke Spannungen im Land.“
Der Aufruf erfolgte wohl zu spät: Die Rechtsnationale Marine Le Pen bekräftigte daraufhin unbeeindruckt, ihr Rassemblement National (RN) werde in der Nationalversammlung den Misstrauensantrag der Linksfront unterstützen. Arithmetisch kommen die beiden Oppositionskräfte auf die Mehrheit von 289 von 577 Sitzen. Die Tage von Barnier im Hôtel Matignon, dem Regierungssitz, schienen damit gezählt; am Ausgang der Abstimmung, die erst nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe erfolgte, zweifelte zu dem Zeitpunkt in Paris niemand mehr. Sogar Präsident Emmanuel Macron, der auf Staatsbesuch in Saudi-Arabien weilte und von dort aus den „unerträglichen Zynismus“ der Opposition geißelte, soll in seinen freien Minuten bereits über der Nachfolge Barniers brüten.
„Censure“ in Frankreich: Regierungssturz mit Ansage
Der Auslöser für den angekündigten Regierungssturz war ein abrupter Kurswechsel Le Pens. Bisher hatte die RN-Gründerin Barniers Minderheits-Mitterechts-Regierung geduldet. Um ihre Chancen bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 zu erhöhen, gab sie sich seit der Nominierung des 73-jährigen Premiers Anfang September staatstragend republikanisch; Barnier brachte damit einige Vorlagen durch.
Am Montag gab Le Pen aber bekannt, dass sie das Sozialversicherungs-Budget zurückweise und einen Misstrauensantrag – in Frankreich „censure“ genannt – der Linken mittrage. Das war gleichbedeutend mit dem Todesurteil der noch nicht einmal drei Monate alten Barnier-Regierung.
Frankreich: Le Pen führt laut Umfragen in den meisten Bevölkerungs- und Alterskategorien
Warum sie Barnier fallenlässt, sagte Le Pen nicht wirklich. Zwei Gründe dürften den Umschwung herbeigeführt haben. Der erste ist wahlpolitisch bedingt: Le Pen führt am Mittwoch laut Umfragen in den meisten Bevölkerungs- und Alterskategorien – außer bei den Senior:innen. Dass Barnier den automatischen Teuerungsausgleich im Haushalt 2025 um ein halbes Jahr aufschieben will, ist für Le Pen ein gefundenes Fressen: Mit ihrem Veto zu diesem faktischen Rentenabbau hofft sie die Wählerschaft im Ruhestand für sich zu gewinnen.
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Der zweite – und wohl entscheidende – Grund ist taktischer Natur. Mitte November hat die Staatsanwaltschaft im RN-Prozess wegen Veruntreuung von EU-Geldern nicht nur eine – modifizierbare – Haftstrafe für Le Pen verlangt, sondern auch ihre Unwählbarkeit für mindestens fünf Jahre. Das ist eine politische Bombe: Die dreifache Präsidentschaftskandidatin würde an einer neuen Bewerbung 2027 gehindert; Le Pens zehnjähriger Anlauf ins Elysée wäre gestoppt.
Für Le Pen geht es um alles - die Rechtspopulistin braucht die vorgezogene Frankreich-Wahl
Das Urteil, das für Le Pen alles ändert, ist für den 31. März angesetzt. Um dem zuvorzukommen, will Le Pen offenbar versuchen, vorgängig eine neue Präsidentschaftswahl zu provozieren. Der erste Schritt dazu ist der Sturz der Regierung Barnier. Der dürfte notgedrungen auf Macron zurückfallen. Denn dass die Barnier-Regierung so fragil ist, hat sie dem Präsidenten zu verdanken: Er hatte im Juni ohne Not Neuwahlen angesetzt – und verloren.
Seither dominieren extreme Kräfte die Pariser Politik – zur Rechten Le Pen, zur Linken das „Unbeugsame Frankreich“ von Jean-Luc Mélenchon. Macron ist politisch isoliert; seine Popularität ist mit 17 Prozent so tief wie bei keinem seiner Vorgänger zuvor.
„Der König ist nackt“, kommentierte das linke Newsportal Regards diese Woche kurz und prägnant. Macron hat kaum mehr Optionen. Neue Neuwahlen sind aus Verfassungsgründen erst wieder im kommenden Sommer möglich, und solange ist jede Macron-Regierung dem Klammergriff Le Pens und Mélenchons machtlos ausgeliefert. Würde Le Pen auch die nächste Regierung bald wieder stürzen, könnte sich auch Macron nicht mehr lange halten.
Schon heute erschallen immer mehr Rufe, der Präsident solle zurücktreten und die Bahn frei für einen Neubeginn machen. Die „Unbeugsamen“ haben in einer Petition zur Amtsenthebung Macrons bereits 378.000 Stimmen gesammelt; auf der Rechten legen nicht nur RN-Abgeordnete, sondern auch liberale Ex-Minister wie Jean-François Copé dem tief gefallenen Staatschef den Rücktritt nahe. Sie verweisen darauf, dass Frankreich mehr und mehr auch eine Wirtschafts- und Finanzkrise droht, solange die politische Krise nicht ausgestanden ist.
Frankreich: Macron wird sich bis 2027 nicht im Amt halten können
Le Pen weiß, dass Macron von seinem selbstbezogenen Naturell nicht freiwillig abtreten wird. Aber sie kann davon ausgehen, dass der Präsident nicht länger standhalten könnte, wenn sie nach Barniers Sturz auch den nächsten Premier bald wieder absägen würde.
Deshalb ist anzunehmen, dass sich die Lage Frankreichs bis zum Le Pen-Urteil von Ende März kaum beruhigen dürfte. Nicht nur die Tage der Regierung dürften gezählt sein, sondern vermutlich auch die des Präsidenten. Niemand rechnet mehr damit, dass er bis zu seinem Mandatsende 2027 durchhalten wird. Außer vielleicht er selbst.