Sunday, March 17, 2024
Streit um „grüne“ Lebensweise - Wer nur auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit pocht, macht gefährlichen Fehler
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Streit um „grüne“ Lebensweise - Wer nur auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit pocht, macht gefährlichen Fehler
Von Autor Oliver Stock • 8 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät Menschen, was sie am besten essen sollen. In der Europäischen Zentralbank gibt es Bestrebungen, die Wirtschaft „grüner" zu machen. Beide Initiativen sind aus Sicht von Experten höchst fragwürdig – und sogar gefährlich.
Im Bemühen, möglichst nachhaltig aufzutreten, verlieren manche Institutionen ihr Ziel aus den Augen – und dann wird es gefährlich.
Zwei aktuelle, ganz unterschiedliche Beispiele belegen diese Entwicklung. Es geht um Ernährung und ums Geld, und in beiden Fällen läuft etwas gründlich schief, weil Nachhaltigkeit plötzlich zum entscheidenden Kriterium erhoben wird.
Erstes Beispiel: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat gerade ihre Hinweise vorgestellt, was Menschen am besten essen sollten, um gesund zu bleiben. Die Ratschläge können weitreichende Folgen für die Bevölkerung haben, da sie in der Regel für die Verpflegung in Kitas, Schulen, Kantinen und Seniorenheimen bis hin zu den Programmen der Krankenkassen als Richtschnur genommen werden.
Ärzte: „Klimaschutz wird da über Gesundheit gestellt“
Ärzte zeigen sich allerdings entsetzt angesichts der Empfehlungen der Ernährungswissenschaftler. „Klimaschutz wird da über Gesundheit gestellt“, rügt etwa die Deutsche Akademie für Präventivmedizin (DPAM).
Der Ärzteverein sieht gravierende Fehler. Es könne keine einheitlichen Empfehlungen für die Ernährung aller Menschen in Deutschland geben, da sich deren gesundheitliche Ausgangslage unterscheidet. Die neuen Empfehlungen könnten größeren Teilen der Bevölkerung in Deutschland nicht nur nichts nutzen, sondern sogar schaden.
So sei die Charakterisierung von Lebensmitteln in solche „pflanzlichen Ursprungs“ und solche „tierischen Ursprungs“ wissenschaftlicher Unsinn. Der allgemeine Verzicht auf tierische Lebensmittel könne bedenklich sein: Die ausreichende Versorgung etwa von Kindern und Senioren „mit hochwertigem Eiweiß, essenziellen Aminosäuren und Fettsäuren sowie mit etlichen Spurenelementen und Vitaminen“ sei mit den Empfehlungen nicht gewährleistet.
Die Empfehlung „an alle“ hingegen, täglich 300 Gramm Getreideprodukte zu verzehren, sei für viele Millionen Menschen in Deutschland nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar gesundheitsgefährdend. „Die Menschen müssen wissen, dass 300 Gramm Getreideprodukte pro Tag genauso wirken wie circa 45 bis 50 Teelöffel Zucker. Das liegt daran, dass die Stärke im Getreide nichts anderes ist als eine Kette von Traubenzucker“, erklärt Johannes Scholl, DAPM-Vizepräsident.
„Für über 30 Millionen Menschen sind diese Empfehlungen gesundheitsgefährdend, weil schon Vorerkrankungen vorliegen.“ Das Fazit der Ärzte lautet deswegen: Etliche inhaltliche Aussagen sind „überholt und nicht evidenz-basiert“. Zusätzlich werde offenbar der Aspekt des Klimaschutzes über die gesundheitlichen Belange der Bevölkerung gestellt.
Bestrebungen in EZB: Wirtschaft „grüner" machen
Das zweite Beispiel für eine Institution, die mit Blick auf nachhaltige Verhaltensweisen ihr Kernziel aus den Augen verloren hat, liefert gerade die Europäische Zentralbank (EZB).
Dort gibt es derzeit intern Streit um die Frage, ob die EZB ihre Politik darauf ausrichten soll, die Wirtschaft „grüner" zu machen, oder ob sie sich auf ihr Hauptziel, nämlich die Preise in der Eurozone stabil zu halten, beschränken soll.
Passiert ist bei der EZB folgendes: Frank Elderson, eines von sechs Mitgliedern des EZB-Direktoriums und Klimabeauftragter der Notenbank, hat in einer Sitzung im Februar die Mitarbeiter mit der Ansage verunsichert, dass Personen, die seine grünen Ziele nicht unterstützen, nicht willkommen seien.
„Ich will diese Leute nicht mehr haben", soll er laut Zuhörern gesagt haben. Und: „Warum sollten wir Leute einstellen wollen, die wir umprogrammieren müssen? Weil sie von den besten Universitäten kommen, aber immer noch nicht wissen, wie man das Wort 'Klima' buchstabiert?"
Die Personalvertretung der EZB zeigt sich „schockiert“ über diese Aussage. In einer Mail, die unter anderem auch bei der Financial Times landete, erklärte sie, die Idee, Menschen „umzuprogrammieren“, stehe in „krassem Widerspruch zu Vielfalt und Inklusion, insbesondere zur Vielfalt der Gedanken.“
Eldersons Haltung sei „autoritär", ließen sich Mitarbeiter anonym zitieren. Eine freie und offene Diskussion über den Klimawandel - und die Rolle, die die Bank bei seiner Bekämpfung spielen sollte – sei in der in Frankfurt ansässigen Organisation nicht mehr möglich.
Tatsächlich hat die EZB in ihren Statuten den Einsatz für nachhaltiges Wirtschaften zum Ziel erhoben: „Wir arbeiten daran, die Klimarisiken für geldpolitische Geschäfte und Anlagegeschäfte sowie für das Finanzsystem besser einschätzen, überwachen und steuern zu können. (…) Wir unterstützen einen geordneten Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft mit Maßnahmen, die in unseren Aufgabenbereich fallen“, heißt es da.
Experte: Kritische Debatte ist „schwierig geworden“
Die EZB argumentiert, sie sei rechtlich verpflichtet, zum Kampf gegen den Klimawandel beizutragen, und beruft sich auf eine formale Nebenaufgabe, die sie zur Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der EU verpflichtet.
Profis von außerhalb sehen das kritisch. „Die Diskussion über die Ökologisierung des Zentralbankwesens ist so polarisiert, dass eine kritische Debatte schwierig geworden ist", sagt Daniel Gros, Direktor des Institute for European Policymaking an der Bocconi Universität in Mailand dem Nachrichtenportal Politico.
Und Volker Wieland, Ökonom beim offiziellen Frankfurter Gremium der EZB-Beobachter, glaubt darüber hinaus, dass sich Elderson und die EZB überschätzten: „Ihren Einfluss auf die Emissionen des Euroraums halte ich für sehr gering. Hier sind die Instrumente der CO2-Steuer und des Emissionshandels wesentlich effektiver als etwa die Politik bei den Anleihekäufen der EZB.“
Allen Kritikern gemeinsam ist, dass ihnen die Entwicklung der vergangenen Jahre recht gibt: Die EZB hatte einer stark steigenden Inflation über Monate hinweg untätig zugesehen und musste dann in schneller Folge die Zinsen rapide anheben, um die Geldentwertung noch zu stoppen.
Hat sie sich, so fragen sich die Kritiker, von ihren Nachhaltigkeits-Ambitionen so sehr ablenken lassen, dass ihr die Geldwertstabilität gleichgültig geworden war?