Thursday, March 21, 2024

Papst Franziskus: Fremd in dieser Welt

Frankfurter Allgemeine Zeitung Papst Franziskus: Fremd in dieser Welt Matthias Rüb • 1 Std. • 7 Minuten Lesezeit Papst Franziskus bei einer Heiligen Messe im Petersdom in Rom Seit elf Jahren ist Jorge Mario Bergoglio Papst. Ehe er Ende Februar 2013 das Flugzeug bestieg, um zum Konklave nach Rom zu fliegen, sagte er zum Rektor der Kathedrale von Buenos Aires, der Mutterkirche seiner Erzdiözese: „Nos vemos a la vuelta.“ Das heißt so viel wie „Bis gleich“ oder „Wir sehen uns um die Ecke“. Wie üblich reiste Bergoglio mit leichtem Gepäck, einer verbeulten Aktentasche und einem kleinen Koffer. 2001 war der Erzbischof von Buenos Aires von Papst Johannes Paul II. ins Kardinalskollegium berufen worden. Nach dem überraschenden Rücktritt von Benedikt XVI. gehörte der Argentinier zu jenen 115 Kirchenmännern aus aller Welt, die in der Sixtinischen Kapelle einen neuen Papst zu wählen hatten. Ob der damals 76 Jahre alte Erzbischof tatsächlich mit der baldigen Rückkehr in seine Heimatstadt rechnete oder ob er sich insgeheim doch Hoffnungen auf einen Karrieresprung im Vatikan machte, wissen wir nicht. Jedenfalls war Papst Franziskus seit seiner Wahl am 13. März 2013 nicht mehr in Argentinien. Im Vatikan heißt es, im November dieses Jahres könnte es endlich zur Pastoralreise an den Río de la Plata kommen, zum Doppelbesuch in Argentinien und Uruguay. Doch der Papst ist erkennbar gebrechlich. Er musste in den vergangenen Jahren schwere Operationen über sich ergehen lassen, er bewegt sich meist im Rollstuhl und wird seit Wochen von einer Bronchitis geplagt. Er müsse seine Kräfte einteilen und seine Reisetätigkeit einschränken, sagt Franziskus. Ob es tatsächlich zu dem von vielen seiner Landsleute ersehnten Heimatbesuch kommt, steht dahin. Der damalige Kardinal Jorge Mario Bergoglio im November 2004 in Buenos Aires Noch immer geprägt von der Befreiungstheologie Nach seiner Wahl hatte der frisch gekürte Papst, der sich nach dem heiligen Franz von Assisi (1181 bis 1226) Franziskus nannte, der jubelnden Menge auf dem Petersplatz zunächst einen „Guten Abend“ gewünscht und dann berichtet, seine Kardinalsbrüder hätten ihn „vom anderen Ende der Welt“ nach Rom geholt. Inzwischen weiß man, dass das Heimatland Argentinien und die geliebte Stadt Buenos Aires für Franziskus geistig gleich um die Ecke geblieben sind, ungeachtet der gut elftausend Flugkilometer Entfernung: Der erste Papst aus dem globalen Süden ist nie in Europa, nie in der nördlichen Hemisphäre „angekommen“. Maßgeblich geprägt wurde Jorge Mario Bergoglio, der zunächst eine Ausbildung zum Chemiker absolvierte, ehe er 1958 dem Jesuitenorden beitrat und 1969 zum Priester geweiht wurde, von zwei geistlich-politischen Bewegungen: von der Befreiungstheologie und vom Peronismus. Die spezifisch lateinamerikanische Theologie der Befreiung stellt die Armen und die an den gesellschaftlichen Rand Gedrängten ins Zentrum ihrer theoretischen Erwägungen und ihrer praktischen Seelsorge. Damit hat sie einen klar antikapitalistischen, antikolonialen beziehungsweise antiimperialistischen und mithin antiamerikanischen Impuls. Das Gleiche gilt prinzipiell für den Peronismus. Obschon es von dieser politischen Ideologie deutlich mehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Varianten gibt als von der Befreiungstheologie. Der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez hat sich intensiv mit dem Wirken und dem Vermächtnis von Juan Domingo Perón (1895 bis 1974) und dessen zweiter Ehefrau Eva Perón (1919 bis 1952) beschäftigt. Der General herrschte von 1946 bis 1955 sowie, während der letzten acht Monate seines Lebens, bis Juli 1974 als Präsident über Argentinien. 1995 veröffentlichte Eloy Martínez den Roman „Santa Evita“, die halb fiktive Lebensgeschichte der bis in die Popkultur hinein verehrten „Primera Dama“ Eva Perón. „Santa Evita“ ist die vielleicht beste Beschreibung der Heiligen der „Descamisados“, jener „Hemdlosen“ am äußersten Rand der argentinischen Gesellschaft. Die elegante Evita Perón pflegte sich selbst als „Erste der Hemdlosen“ zu bezeichnen, obschon sie den Luxus liebte und dies auch zeigte. Die verarmten Massen verehrten sie dennoch. In einem Essay von 2010 schreibt Eloy Martínez: „Niemand weiß genau, was der Peronismus eigentlich ist. Deshalb findet das ganze Land im Peronismus auf so vollkommene Weise seinen Ausdruck. Wenn ein Peronismus fällt – wegen Korruption, weil er gescheitert ist oder weil er sich einfach überlebt hat –, tritt sofort ein anderer Peronismus an seine Stelle und sagt: ,Das war ja alles nur Betrug, jetzt kommt erst der wahre Peronismus.‘ Seit Jahrzehnten hofft man in Argentinien auf die Ankunft des wahren Peronismus, als wäre er eine Art Messias, der das Ende der Zeiten überstrahlt, wenn das Land endlich und für immer seine Größe wiedererlangt.“ Die Klage der Ausgeschlossenen in Lateinamerika Es gab und gibt einen linken, einen zentristischen und einen rechten Peronismus. Peronisten haben sozialistisch verstaatlicht, sozialdemokratisch reformiert und marktliberal privatisiert. Der Peronismus ist langlebig und anpassungsfähig. Er prägt seit acht Jahrzehnten die politische Landschaft Argentiniens. Er hat Kriege und Krisen überdauert, auch die Militärdiktatur von 1976 bis 1983, und kann jederzeit als Sieger aus Wahlen hervorgehen. Die Partei der Peronisten heißt seit 1947 „Partido Justicialista“, was so etwas wie Partei der sozialen Gerechtigkeit heißt. In dem Kunstwort „justicialista“ (justizialistisch) verschmelzen die Wörter „justicia“ (Gerechtigkeit) und „socialista“ (sozialistisch). Mit dem Impetus der sozialen Gerechtigkeit, der zudem messianisch aufgeladen und mit einer marienähnlichen Gründungsfigur wie Evita Perón ausgestattet ist, ist der Peronismus umstandslos an die Befreiungstheologie anschlussfähig. Zwei seiner frühen Reisen führten Papst Franziskus 2015 und 2016 nach Lateinamerika, zunächst nach Ecuador, Bolivien und Paraguay, wenige Monate später nach Kuba sowie in die USA. Die Reden, die der seinerzeit noch vor körperlicher Energie strotzende Papst bei diesen „Heimspielen“ und noch dazu in seiner Muttersprache Spanisch hielt, sind Schlüsseldokumente zum Verständnis seines Pontifikats bis heute. Im bolivianischen Santa Cruz de la Sierra sprach Franziskus im Juli 2015 beim „Welttreffen der Volksbewegungen“, zu welchem Vertreter globalisierungskritischer Gruppen aus allen fünf Kontinenten in unregelmäßigen Abständen zusammenkommen. „Die Bibel erinnert uns daran, dass Gott die Klage seines Volkes hört“, sagte Franziskus auf dem Messegelände der Stadt und fuhr fort: „Und auch ich möchte abermals meine Stimme mit der Ihren vereinen. Die berühmten ,drei T‘ – tierra, techo y trabajo (Grund und Boden, ein Dach über dem Kopf und Arbeit) – für alle unsere Brüder und Schwestern sind unantastbare Rechte. Es lohnt sich, für sie zu kämpfen. Möge die Klage der Ausgeschlossenen in Lateinamerika und auf der ganzen Erde gehört werden!“ Es ist kein Zufall, dass der Papst aus dem Süden Amerikas drei unantastbare Rechte nennt, die mit den drei ebenfalls als gottgegeben postulierten Rechten der Unabhängigkeitserklärung im Norden Amerikas eher konkurrieren, als mit diesen zu harmonieren. In der „Gründungsakte“ der USA von 1776 (sowie aller folgenden modernen Demokratien), die zugleich eines der bedeutendsten Dokumente des Wertekanons des „jüdisch-christlichen Abendlandes“ ist, werden als Gaben des einen Gottes an alle von ihm als „gleich geschaffenen“ Menschenkinder und als „unveräußerliche Rechte“ die Werte „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ postuliert. Gegen diese Rechts-, Freiheits- und Wohlstandsmission der Führungsmacht der nördlichen Hemisphäre setzen die „Volksbewegungen“ des globalen Südens – und mit ihnen der Papst – die Werte „tierra, techo y trabajo“. Franziskus glaubt nicht an die Selbstheilung des Kapitalismus Gegen den globalisierten Kapitalismus mit seinen Auswüchsen, gegen die ungezügelte Freiheit und den uferlosen Konsum stellt der Papst in seiner Rede von Santa Cruz sein Bekenntnis zu den Werten einer vormodernen Subsistenzwirtschaft – Boden, Unterkunft und Arbeit. In der Perspektive derer, die in einer globalisierten Marktwirtschaft immer weiter an den Rand gedrängt werden, steht der Wert der (sozialen) Gerechtigkeit immer über dem der (politischen) Freiheit. In dieser und in weiteren Reden brandmarkt Franziskus den Kapitalismus als jenes „götzendienerische System, das ausschließt, demütigt und tötet“ – nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur, die Schöpfung Gottes selbst. An die Kräfte dieses Systems zur Selbsterkenntnis und Selbstheilung glaubt Franziskus nicht. Während der Papst bei seinem Besuch in den USA darauf bestand, mit Gefängnisinsassen zusammenzukommen, kam es auf Kuba nicht zu einem Treffen mit inhaftierten Dissidenten. Während er in seinen Reden auf Kuba und in den USA ein ums andere Mal den „pueblo“, das Volk, pries, kamen Wörter wie „Demokratie“, „Freiheit“ und „Individuum“ kaum je vor. Von besonderer Bedeutung war für Franziskus das Treffen auf dem Flughafen von Havanna mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill im Februar 2016. In der gemeinsam mit Kyrill, einem ehemaligen Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB, verfassten Erklärung preisen Papst und Patriarch „die noch nie da gewesene Erneuerung des christlichen Glaubens, die gerade in Russland geschieht“. Die in Russland angeblich hochgehaltenen traditionellen „Familienwerte“ finden die ausdrückliche Zustimmung des Vatikans unter Franziskus. Der konservative orthodoxe Glaube des Ostens wird als Gegenmodell zum dekadenten Wertezerfall in den vom Kapitalismus zersetzten westlichen Gesellschaften begriffen. Franziskus treibt auch mit Entschiedenheit und gegen alle Kritik die Annäherung an die kommunistische Führung in Peking voran. Er will die Spaltung der katholischen Christen in China in eine regimehörige und eine vatikantreue Kirche überwinden. Die allgemeine Verweigerung der individuellen Freiheitsrechte in der chinesischen Gesellschaft oder die Unterdrückung der muslimischen Uiguren stellen dabei keine Hindernisse dar. Auf autokratische Herrschaftspraktiken blickt der Papst, der im Peronismus mit der Tradition eines starken „Volksführers“ sozialisiert wurde, nicht mit Misstrauen. Vorausgesetzt, die betreffenden Länder begehren gegen das vom Papst als todbringend angeprangerte System der kapitalistischen Globalisierung auf – von Venezuela und Kuba über Russland und konservative islamische Regime bis zur neuen Weltmacht China. Auch mit Blick auf Reformen der Weltkirche bringt der Papst aus Argentinien peronistische Praktiken zur Anwendung. Statt ein konzises Programm zu verfolgen, bleibt er weltanschaulich flexibel. Franziskus lässt jeweils Versuchsballons steigen und passt seine Haltung und sein weiteres Vorgehen taktisch und nach Maßgabe der Reaktionen an. Ob es um den Zölibat oder um Weiheämter für Frauen geht, um eine synodale Demokratisierung der kirchlichen Herrschaftsstrukturen oder um eine Anpassung der unzeitgemäßen Sexualmoral: Man weiß nie so wirklich, wo der Papst in diesen Fragen steht. Nur eines ist klar: Am Ende entscheidet er allein.